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Heidelberger Ieitung erscheint a» scdem Wochentag mitlags 12 Uhr. Amlliches Derkündi»
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lUnabhängige Tageszektung)

Verkündigungsblatt für Nordbaden und die angrenzenden Teile von Bayern, Hessen und Württemberg.

Nr. 165 Samstag, den 19. Iuli 1919 61. Iahrgang

Das Wichtigste vom Tage

Die belgischen Kammern haben in ge-
nreinsamer Sitzung den Friedensvertrag ange-
n o m m e n.

Bonar Luw tcilte im Unterhause Kabi-
„ettsveränderungen zu einem noch nicht
uähcv bestimmten Zeitpunkt an.

Die Nationalversammlung behandUte
gcstern das schwarz-rote S ch u l k o m p r o m i h.

Das Danziger Schwimmdock derNeichs-
werft, das nach Kiel abgeMeppt werden sollte,
ist von den Arbeitern verscnkt worden.

Znfolge der Aufhebung des Belagerungszustandes
und anderer Zugeständnisse ist in Stettin der
E e n e r a l st r e i k und der V ü r g e r st r e i k a u
gehoben worden.

Der Friedensvertrag mit Oesterreich
ist nahezu fertiggestellt und wird voraussichtlich
Mittwoch übcrreicht wevden.

Der braunschwcigische Landtag hat die
völlige Trennung oon Kirche und Schule
bcsihlossen.

Der König von Svanicn hat Maura mit
der Vildung eines konservativen Konzentrations-
kabinetts beaustragt.

Zur „Aufrcchterhaltung der Nuhe und Ordnung"
wäbrend der Volksabstimmung in Nord-
schlcswig wkrd ein französisches Znfantericba«
taillon Flensburg bcsej,en'.

Entente-Unstimmigkeiten

Dle Auslieferungen

Nach Pariser Blättermeldungen hat die Kommis-
sion sür dre Verantwortlichkeiten beschlossen, tas
Vsrlangen HinÄenburgs und Bethmnnn-
Hollwegs, die die Ver<rn>twortung für den Kai-
ser übernehmen wolltcn, abzulehnen.

Wie dsr „Deutschen Tagesreitung" gemevdet
wird, verlangt die Entente in Kürse die Auslie-
ferung des Leutnants Simon, dec sein«r-
seit d.e Verbrennung der französischen
Fahnen Unt-r den Linden in Berlin veranlatzte.

Amsterdam, 12. Juli. Dem Allgemeen H.andels-
blad wird aus Atmerongen gemeldet, datz der Kai-
s e r wohl stark nervös sei, aber nicht an einer
ernsten Mvvenkvankheit leide.

Der Fall Mannheim

Die Antwort der deutschen Negierung

mif die Note des Marschalls Fo>ch. worin dieser
für die Tötung des Sergeanten Mannchevm o'me
^chrdcnersia^zahlmyg von 100 000 ,Frcs. an! We
Familie des Ätannhe'llm und eine Kontribution
von 1 Million Eoldmark von der Staldt Berlln
sovuerte. is/.n Weimar fertiggsstellt worden. Sie
mird heute nachmittag überreicht und in ihrem
Wortlaut veröffentlich werden. T,ie deutfche Ant-
wcrt wird der Zahluug an die Famiilie Mann-
heuus zustiimmen. aber gegen die geforderte
Kon.tnbution Einspruch erheben und sie ab-
lehnen, da irgend ein Verschulden der Stadt
Serlrn >die Vrrliner Polistei ist nicht städtsch. svn-
oern ilaatlich) nicht vorliegt.

Im Polizeipräsidinm fand gestern eine Ge-
8e n ub,:irsts-sl lu n g d>or sämitttchein Zeiuaen
oer Vorgänge in der Friedrichstratze statt. Es
Wrrd versucht werden. aiuf Grund der einzelnon
dsugenaussagen den ganzen Vorsang M. rekonstru-
leren und ihn in allen seänen Phiosen aenau fest-
Mtellim.

Französische Pretzhetze

Die Paviser Presse beschäftigt sich mit der An-
Lslegmhsit ÄNannhsims uud stellt seWst, bis in die
wzialistischen Reihen hin ern-müt'ia fest. datz
7«s, Aitentat gegen den französischen Sergsanten
suruckzuführen sei, auif die intensive all--
«eutschL Hetze. die namentlich seit drol Wo-
offvukundig in Doutschland. vornechmlich aber
>.^Verlin. getrieben werde. Das dcim-Minister
fchrecht^^^ nahestehende Petit Jouvnal

»s^an nehms doch als Geisvln elne gsw'sse
UMhl dmch das Los beistimnrter Kriessge-
, "^ener und tsilt dex Regieruns des Prüst-
enren Eebert mit. datz für «inen, getöteten und ver-

Dcr Senat gegen Wilson

Der Sondevberichterstatter des Echo de Paris
in Washniigton berichtet: Tüe Kommission des Se-
nats für auswärtrge Angelegenheiten nwhm eine
Entschlietzung an, die verlangt:

1. datz Wilson die Mschrift des Protestes
übevrstittle, dvn Lansing. Blitz und White
uegen die Kkausel des Friedensvertrages. betref
fend Schant-ung. erlasssn hätten.

2. dom Ausschutz Ai'Skunft zu gabsu ülber die
Austrengungeu Iapnns China einjzuschüchtern
und zur Untdrzeichnung de§ Friedensvertrages zu
zwüngen.

3. iihlm eine Abschrift Äes airge>briche>n Geheün-
vertrages zwischen Iapnn und Deutschland
zuzustellen.

4. ihm Kenntnis zu seben von allen in Paris
ausgsavbeiteten Entwürfen eines VölkcÄundes so-
wie der Protokolle allor Sitzungen der Fvi^bens-
kanferenz.

Der Berichtcrstatter vergloicht den Versuch der
Kommiffion mit den Manövern der Bolschowistcn,
als die Eeheimdokumente des rmssischen
Ministeriunis des Aeutzcrn veröffentlicht wurden.
Man evwarte, datz Wilson stch welgern werde.
was allerdings einon Konflikt hervorrufen könne.
Es sei laugenscheinlich, datz man die aimerikanischeil
Gefühle gegen Japan auf den Giipfelp rnkt
treiben und den geh e i m n isv ol le n Schleier
lüften wolle. hinter de,n der Frisdensvertrag
verhandelt wurde.

Fern'r wivd aus Notterdam gemeldet: Der Ver-
treter ider Timrs in Washington meldet, der
Kamvf zwifchen Wilson und dM Senat
rvegen der Ratifizi«rung des Völke bundes wurde
anr 14. Juli in vollem Ernste begonnen.
Wie dio Sache jetzt steht, Äürften die Repulblikancr
in der Lage sein. gewisse Zusätze zum Vertvag
d urchzub r i n gc n. Falls es sich um Zusätze
handeln würd^, die sür Wilson unangenehm wävea,
verlasse sich der Präsident auf den Druck der öffent-
lichen M>:inung, die er auf seiMr Neiss durch
dasLand sür sich su gewinnen hoffe. Von dem
Ergobnis dieser Rei> werde überhauvt alles a b-
häng e n.

Teilweise Arbeitsunfähigkeit der Friedens-
konferenz

Die Vlätter mslden, datz einzelne Aus-
schüsse der Frisdenskv'iferenz nicht arbeits -
fähig siud, weil Präsident Millon vor se-iner
Abrsise die amerikanischrn Vertveter anwies. die
S-itzr rn den Ausschüssen, auf dis Amerika Anipruch
hnibe. frej zu lassen. bi§ dsr ämerikanische Senat

dsn Frisdensvertrag ratifiziert baibe. Wilson vec-
tvat den Standpunkt, datz jeder Vorbehalt,
dvn der Senat mache, sinsx Ablehnung des
Fviedensvertrages glcichkomme.

Die Schantung-Frage

Der Washingtoner Berichtevstatter des Temps
meldet: Wenn Vnglaud und Frstnkreich ihr Wort,
die Unantastbarkeit des chinesischen Gebie-
tes zu achten. brechen wollten, stohe ss ihnsn frei,
dies zu tun. Die Verein igten Staaten
gingen diesen Weg nicht. Der Bericht-
erstatter fügt hiuzu. es sei für niemcvnd sin Es-
hsimnis, datz die Klausel über Schantung so-
wM von Wilfon wis von Cugland und Fra'rk-
reich nur gegen das Versprechen iIapans, Schan-
tung China zurückzugeben, angenommen worden
sei. Es gehe das Gerücht um. datz das Staots-
departement sich bald Äarüber äutzern werds.

Gegner des Kaiserprozesses

Wie die „Figaro-Tribune" meldet. habsn sich
die amerikanischen. japanlschen und
rtalienischcn Delegierten öffcntlich gegen
den Kaiser-Prozctz ausgesprochen. Die Franzo-
sen seien darüber sehr enttiiuscht.

Das enttüuschte Ztalien
Franklin Bouillon, der Vorsitzonde der Kaminer-
kon.mission für auswärtige Angelcgenheiten. sagt
in sinsm Lsitartikcl dss Matin mit der UebePschrift
„Wsrden wir Jtalien verlieren?", datz
vor ebnem Jahr am frauzösischen Nat oualfest Jta-
lieu mit Frankrcich begsistsrt gefmert babe. Nis-
mals absr zeigten sich die Feiudsslrgkeiten d's ita-
lisnischen Volkes gegen Frankceich dttltl'.chr als
ietzt. Jtalion erfüllte nlle. festgelsgtcn Dedinguu-
gen, unter donsn ss in d:n Krieg singetretcm ist,
bis jetzt abor bätten die Alliiertcn autzer füv ssine
Novdgrenze noch nichts für seins vitalen Jntcressen
setan. Woder die Adrinfrage, noch die kleinasia-
tische Fmge, uoch die Kolonialfrage seien geläst
wovden, im 'Gegenteil seicn Ländevstriche, dis man
Jtalisn formell vsrsvrach, Ericchenland segeben
rvovden. und «schlieblich hielt man Jtalien autzer-
halü der zwischen Frankreich, England und Amerika
abgoschlosienen Gavantieverträge. Die wirtschaft-
lichs Fvage Jtalieus sei verzwsifelt. Fvauk-
reich hätto alles tun dürfen, nuv keine Trup -
pen nach Fiume sendsn. Franklin Bobillon bc-
schwört Frankrsich, seine Methoden sofort
zu ändsrn uud Jtalien sine AAianz voi^u-
schlagen.

wundetsn Frauzosen mlndestons zwei Gsiseln

von demsslbon Rang erschossen werben.
Dann erst werds die M-ission, dis Der Fr-iedensver-
trag uns in Deutschland zu halteu zusteht. rddrk-
lich voll seschützt werdcn. Die Demokratie Nou-
velle verlangt, datz deutsche Daten ähulicher Art
durch erns sofortigs Riprsssalis beantwortst rverds
z. B. durch erne Verzög»rung lu dor Rück^
fendung deutscher Krisgsgefangener. Äuich Matin
verlangt schärfftes Vovgchen. Petit Iournal be-
msrkt übrigeus noch, datz an dom Zulstaud der Er-
regung autzer dem Nativnalveübanlde dor dSut-
schsu Offiziere uud don deutschen Offizverbuuds
die Liga zur Verteidigung des Kaisers
schuld soi!. Dis Neihen dieser Derbände mütztem g e-
lichtst rocrdeu.

Die französrsche Presse stellt sich dümjmer als sre
sst. Sie wertz doch gaaz aeuau. datz nachts zwi-
schen 12 und 1 Uhr auf der Friedrichstvatze nicht
ausgerechnet Lhauomisten uud Alldeutsche spazie-
rsn gehen. sondern andere Le-ute. zu denen sich dis
fvanzüsischen Soldatsn hrngszogen siihlteu.

Die Kirchenfrage im Saarstaat

-- Ludwigshafen. 19. Juli. (Prlvattel.)
Wie wir erfahren, ist für die cvangelischen Ge-
meinden dcs Saarstaates eine Verselbst-
ständigung geplant unter Loslösung von
der preutzischen Landeskirche bezw. der unierten
der Nheinpfalz.

:: SaarSrücken. 19. Zuli. (Prlvattel.)
Die klerikale „Tagcszeitung" erfährt von best-
informierter Seite, datz im neuen Saarstaate
die Bildung einer Diözefe mit Einverständ-
nis des Vischofs von Tricr erfolgen wird. Als
Nesidenzstadt des neucn Oberhirten ift Saa r-
louis bestimmt. Es wird demnach aus Tei-
len der Bistümer Trier u .Speyer ein neues
Blstum gcschaffen, das den Namen,Saar-
bistum erhalten wird.

Kirche u. Schule in Braunschweig

Vvaunschweig, 19. Juli. Jn ldsr b r a u n s ch w e i-
g'schsn Landes osrsamm l uug wuvde in
namsntlicher Mstimmung mit 39 gegen 13 Stim-
men die völlige Trennung von Kirche u. Schule be-
schlossen. Ein Antrag auf Ausschaltumg des Rcli-
g'onsunterrichts aus den Schulen wuiide mit den
Stimmen dsr sozialisti'schen Partsi ebenfalls ange-
nomnvcn.

Die Arbeit

der Nationalversainmlung

Weimar, 18. Juli. Der Acltostenausschutz der
Ngttomalbersammlung beschlotz, am Dienstag
dis vvosranrmatischen Erklärungen des Mi-
nistsrpräsidenten un!d des Nsichsmi --
N'isteps dss Aeutzern entgogsnzuneHmen. sür
den Fall, datz die »weite Lesung des Verfasiu'ilgs-
sntwurfes am Montag beendet wevden kann. Zst
dics nicht nvöglich, so soll die zweite Lcsung dss
Bcrfasiungsentwurfss unterbrochen und beL-o.ts a -
Mionkag in die grotze politisthe Dobatte singetrcten
werden. Man rschnet bei den ausgcdehnten Auf-
gaben nrlt Bevatungen bis Ende A u g ust.

Besetzung von Barmen

(.) Bar m e n, 19. Zuli. (Privnktel.) Zn
Bnrmen sind gcstern die Negierungs -
truppen elngerückt, zum Schutze gcgen dort
zu erwartende A u s s ch r e i t u n g c n. Dic
sozialistische Partei fordert ihre Anhänger auf,
sich hicht zu einem Gewaltstreik hinreitzcn zu
lasien. Der Belagerungszustand wird vorlüufig
nicht verhängt, obgleich eine Volksmcnge eincn
Angriff gegen die Negierungstruppen ver-
fuchte.

Das russische Problem

Die Frage der Zukunft Nutzlands ist unbestreit-
bar von allergrötzter Vedeutung für Finnland. Wir
warten alle mit gespannter Aufmerksamkeit ab, wie
sich die Verhältnisie dort gestalten werden, aber lei-
der sieht man noch immer nicht klar, was die
nächste Zukunft in ihrem Schotze birgt, und noch
weniger kann man erraten, wie die Entwicklung
sich spätsrhin, wenn die Wogen der Revolution sich
gelegt haben werden. darstellen wird.

Wir entnehmen diesen Aufsatz der in Hel-
singfor erscheinenden Jeitung „Hufondstadsbladct".
Der Artikel dürfte gerade jetzt auch in Deutschland
dem grötzten Jnteresis begegnen.

Steht der Bolschewismus vor dem Fall, wie die
meisten glauben, oder wird er sich trotz allem noch
ein Iahr halten, wie einige skeptisch veranlagte
Kenner russischer Verhältnisie meinen? — diese
Frage ist nach wie vor ungelöst. Datz Peters-
burgs Schicksal für Sein oder Nichtsein des Vol-
schewismus nicht entscheidend ist, ist ohne weiteres
klar. Das Vestimmende hierbei ist der Vormarsch
Koltschaks und Denikins. Aber über deren Siege
und Niederlagen weitz man nichts mit Sicherheit.
Wenigstens wechseln die Nachrichten hieriiber Taa
für 'Tag. Wenn wir heute schroiben, dah Kolt-
schak eine schwere Niederlage erlitten hat und Lis
zum Ural zurückgegangen ist, so kann diese Me'
dung in dem AugenLlick, wo der Artikel gedruckt
wird, umgeworfen sein — um von neuem nach
etwa einer Woche Eültigkeit zu haben. Eines ist
in jedem Fall sicher: Die weitze Offensive
rückt autzerordentlich langsam vorwärts und augen-
blicklich ist es sehr ungewitz, ob die Weitzen in
Rutzland in absehbarer Zukunft einen entscheiden-
den Sicg erringen werden. Vekommen die Weitzrn
nicht die Macht in die Hand bevor die Ernte ge-
borgen ist, so wird das Bolschewisten«»lend wahr-
scheinlich über den Winter andauern — sofern
nicht unvorhergesehene Ereignisie eintreten.

Wenn somit die nächste Zukunft ungewitz ist,
so 'erscheint die Zeit nach der Reoolution rvenn
möglich noch mehr in Dunkel gehüllt. Redakteur
Hcssen (Njetsch) hat als seine Meinung ausge-
sprochen, datz die Kadettenpartei (K. D. — konsti-
tutionello Demokraten) dann das Staatsruder er-
greifen würdc. Und es wäre gut, wenn er recb-
behielte. denn die Partei der Kadetten vertritt in
jedem Falle die aufgeklärte Jntelligenz, den Frei-
sinn und Fortschrit5 Aber Skeptiker bezwoifeln.
datz er vecht behalten wird. Sie erwähnen, datz
die Kadetten nicht die breiten Masien hinter sich
haben. Sie stützen sich nur auf die „Jntelligenz".
aber diese macht in Rutzland,' wie man weitz, nur
eine ganz diinne Schicht der Bevölkerung aus und
dazu 'eine Schicht, die ungeheuer während der Re-
volution gclitten hat: ihre Macht und Bedeutung
sind erheblich zusannnengeschmolzen. Es ist mehr
als zweifelhaft, datz es dieser Eruppc gelingen
wird, tonangebend zu werden. Die Bauernparteien.
die sogen. „Trudowiki". werden unzweifelhaft auch
eine dominievende Nolle spielen und autzcrdem
wahrscheinlich die gemätzigten Svzialisten.

Jch wiederhole noch einmal: alles ist chaotisch
und niemand weitz, was der morgige Tag bringt.
Aber da Nuhlands Zukunft für uns von grötzter
Bedeutung ist, versuchen die Gedanken dennoch das
Dunkel zu durchdringen und die Konturen des
Kommenden zu erraten. Als Anleitung hierbei
kann uns eine Vetrachtung des rusiischen Natio-
nalcharakters dienen, denn, wie sich die Verhält-
nisie anch ändern mögen, welche Erschüiterungen
die menschliche Eesellschaft auch noch zu ertragen
haben wird — eines bleibt allezeit hestchen: der
Volkscharakter. Dieser ist, was Schiller den
„ruhcnden Pol in der Erscheinungen Flucht" nennt.

Es ist gewitz viel über den russischen Volks-
charakter geschricben und gesprochen worden, und
ein j-eder ist sich wohl klar darüber, was damit
gemeint ist. Aber wenn auch die Hauptzüge fest-
stehen, so haben doch die Nevolution und dcr Bol-
schewismus recht überraschende Reflexlichter auf
die russische Seele geworsen und dicsc in teilweise
ganz neuer Beleuchtung gezeigt. Bevor wir die
Sache in diescv Beleuchtung Letrachten, ist -es von
Nutzen, das Wesentliche zu wiederholen, was man
bisher betreffend den russischen Volkscharakter fest-
gestellt hat. An erster Stelle bat man schon vor
langer Zeit gefunden, datz dcr Rusie sich durch. kei-
nerlei bcdeutende Willenskraft auszeichnet: der
charakteristische Nationaltypus ist Oblomow, der
Held von Eontscharows glcichnamigem Roman.
Die fruchtbare Erde, das iin ganzen giinstige und
»n'.lde Klima haben nicht dazu beigetrag.m. den
Willen zu stählen, sondern im Eegenteil erschlaf-
fend auf ihn eingcwirkt. Jm 'Zusammenhang mit
der schwachen Willenskraft steht das Fehlen von
Organisationstalent und in gewisier Vcziehung
auch von Achtung vor Gesetz und Recht: also we-
sentlicher fürs mcnschliche Zusammenleben .erfor-
derlicher Faktoren. Der Nusse entbehrt in hohem
Matze die besonders den angelsächsischen und ger-.
mantfchen (skandinavischen besonders) Völkern
 
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