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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 45.1929-1930

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Eckstein, Hans: Frans Masereel
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https://doi.org/10.11588/diglit.14160#0183

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Weiß-Konstruktion; es werden Flächen neben-
und gegeneinandergestellt. In ihrer spontanen
Rhythmisierung wird noch die furchtbare Er-
regung des Augenblicks spürbar. In den ..Bilder-
romanen" aus den Jahren 1919 und 1920 ..Stun-
denbuch", „Die Idee", ..DieSonne". ..Geschichte
ohne Worte? präzisiert sich diese Holzschnitt-
form. Sie gewinnt ihre bezwingende Kraft, stößt
das Dekorative ab, wird reicher, wächst der \\ irk-
lichkeit zu, die sie nun über den aktuellen Anlaß
hinaus zu umgreifen strebt und immer sicherer,
konzentrierter dem Gerüst dieser Holzschnitt-
technik einbaut. Erstaunlich ist die schnelle
Produktion; es entstehen in dem Jahrzehnt
1919—1929 Tausende von Holzschnitten, neben
den Schwarz-weiß-Legenden die zahlreichen
Illustrationen zu Dichtungen von Leonhard
Frank, Rene Arcos, Romain Rolland, Whitman,
P. J.Jouve, Verhaeren. Maeterlinck. Sternheim,
Stefan Zweig. Maupassant. Charles de Coster u.a.
Erstaunlicher noch ist, daß Masereels Phantasie
nicht erlahmt. Auch gegenständlich verwandte
Themen erscheinen immer wieder in neuein
Gesicht, es überrascht von Bild zu Bild die Neu-
heit, der Reichtum der A ariation. Es wiederholen
sich zu Dutzendmalen die aufgetürmten Stein-
massen der Großstadt, die trostlosen Quartiere
zwischen Brandmaueröden. Masereel dichtet
seinen Sonnengesang; fünf dutzendmal die
Sonne: die Sonne, die ins Meer sinkt, über Berge
steigt, sich hinter \\ olken versteckt, die in
mittaglicher Höhe da über der weiten Landschaft
steht, dort über den Kaminen der Fabriken
strahlt. Es sind immer wieder besondere Stim-
mungen, neue Sichten, neue Beflexe.
Seit einigen Jahren ist nun neben den Holz-
schnittgraphiker der Maler Masereel getreten.
Ja seit Masereel seinen anfänglichen konventio-
nellen Realismus deutlich flämischer Prägung
überwunden hat, überstrahlt sein malerisches
'Werk schon fast das graphische. Diesen Ein-
druck gewann man in einer umfassenden Aus-
stellung des gesammelten W erkes, die G. F. Hart-
laub in der Mannheimer Kunsthalle veranstal-
tete. Im kommenden Frühjahr will die neuge-
gründete Städtische Galerie in München dieselbe
Ausstellung zeigen. Es wäre das die erste große
Veranstaltung dieses unter Leitung Eberhard
Hanfstaengls stehenden Instituts, das damit seine
wesentlichste, notwendigste Aufgabe: Herstel-
lung einer ^ erbindung der lokalen Münchner
mit der großen paneuropäischen Kunst würdig
dokumentierte.

Großformatige Aquarelle leiten zu den Gemäl-
den über. Im Aquarell hat sich Masereel seine
neue malerische Technik erobert. Man spürt auch
hier den Holzschnittgraphiker durch : die Far-
ben der großstädtischen Lichtermagie funkeln
in dem festen formalen Gerüst der Graphik. Das
Abenteuerliche, Phantasmagorische nächtlicher
Großstadtstraßen, das Gewirr von Häusern und
Mauern, über das der Künstler von seiner^ oh-
nung aus hoch oben bei Sacre Coeur im Mont-
martre schaut. Warenhausgetriebe, Hafenbor-
delle, Matrosen mit ihren Mädchen und in den
Schenken — das Alltägliche, Banale wird er-
schütterndes Ereignis, fast zu romantisch-zeit-
loser Schönheit. Jedes Blatt ist mit Tatsächlich-
keit erfüllt, in frühen Aquarellen wirbelt das
heutige Leben in nervöser Überreiztheit. Aber
man hört auch da aus den von innen durch-
leuchteten Farben, den vibrierenden Grau-
tönen Lyrik, sei's auch mehr Bänkelsängerbal-
lade, in deren schrillenTönen Melancholie mit-
schwingt.

In den Gemälden begegnet dieselbe flächige
Organisation der Massen wie in Masereels Holz-
schnitten. Es entsteht eine malerische Monu-
mentalität, in der das sozialethische Pathos eines
Millel, Meunier lebt. Die Matrosen, Hafenarbeiter
in den Estaminets von Boulogne erscheinen in
ihrer breitbeinigen Buhe, mit ihren schweren
massigen Gesichtern, starken Armen, die sich
den Mädchen hart auf die Schulter legen, wie
Heroen des Proletariats. Der formale Aufbau
dieser koloßhaften Figuren erinnert an groß-
flächig skulpturale Schnitzerei, etwa an Beliefs
von Barlach. Etwas Lastendes ist auch in den
Farben: schweres Grau, dunkles Grün, tiefes
Blau — dazwischen einmal starkes sattes Rot.
Die delikatesten farbigen Reize entfaltet Masereel
in seinen Bildern des Meeres, das er leidenschaft-
lich liebt und an dem er bei Boulogne s/mer seit
Jahren den Sommer verbringt. In den Meerland-
schaften wird das Erdgebundene Masereelschen
Wesens, seine Verbundenheit mit flämischem
Volkstum und Nordseelandschaft am offenkun-
digsten.

Zum Schluß noch einige biographische Daten:
Masereel ist 188g in Blankenberghe geboren,
studierte kurz bei Jaan Delvin an der Genter
Kunstschule, war 1909 in England. 1910 in
Nordafrika, 1916—21 in Genf, lebt seit 1921 in
Paris und seit 192/1 jeden Sommer in Equihen
bei Boulogne s/mer. 1923 hat er Deutschland
und Mitteleuropa bereist. Hans Eckstein

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