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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 45.1929-1930

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Aus Vlamincks Memoiren
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https://doi.org/10.11588/diglit.14160#0237

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• Petit Journal illustre", einem kleinen Natur-
geschichtsbuch der Elementarschule oder einem
botanischen Album. Er liebte Bougureau sehr
und sprach mit grenzenloser Bewunderung von
ihm. Das war für ihn der größte Maler, und nie-
mand kam ihm gleich. Mit Rousseau verglichen
ist Cezanne ein durchtriebener Kerl.
In der Kunst ist man stets zu boshaft. Der Mut.
man selbst zu sein, ist jedem anderen Verhalten
vorzuziehen. Es ist leichter, sich der Meister zu
erinnern, als sie zu vergessen.
Vor den Bildern von Henri Rousseau hielt sich
ein belustigtes Publikum auf einer Ausstellung
der Juryfreien im Jahre 1906 die Seiten vor La-
chen. Er selbst, heiter, in einem alten Überzieher,
schwamm in Glückseligkeit. Er gab so restlos
sein Bestes, bemühte sich mit einer solchen In-
brunst, sein eigenes W esen in seiner Malerei aus-
zudrücken, daß er nicht einen Augenblick auf
den Gedanken gekommen wäre, dieses Gelächter
gelte ihm.

Erinnerung an Amatleo Modigliani

In einer Zeit, wo man die Menschen nur zu oft
nach den äußeren Merkmalen des Beichtunis be-
urteilt, kann Modigliani einem mondänen Beob-
achter wohl als ein armer Teufel, ein Bohemien,
ein fürs Krankenhaus und gesundheitspolizei-
liche Institut reifer Held gelten.
Modigliani war ein Aristokrat. Davon legt sein
Gesanitwerk das eindringlichste Zeugnis ab. In
seinen Bildern prägt sich eine große Vornehm-
heit aus, nichts Gewöhnliches, Banales und Gro-
bes hat darin Platz.

Noch immer sehe ich Modigliani vor seinem
Tische in der Botunde sitzen, mit dem reinen
Profil eines Börners, seinem befehlenden Blick
und seinen feinen, rassigen Händen mit den ner-
vösen Fingern. Diese intelligenten Hände ent-
warfen ohne Besinnen in einem Zug eine Zeich-
nung, die er — oh, er war nicht dumm — wie
eine Belohnung den Kameraden ringsum zuer-
kannte.

Mit der Geste eines Millionärs reichte er das
Blatt — manchmal ließ er sich sogar herbei,
seinen Namen darunter zu setzen —, gab es hin,
als bezahlte er einen W hisky. Eines Morgens
machte er in der Rotunde von einer durchrei-
senden Amerikanerin eine Skizze und bot sie ihr
freundlich an. Als sie lebhaft darauf bestand, daß
er sie signierte, schrieb er voller \\ ut über seine
Käuflichkeit den Namenszug in so riesigen Buch-
staben quer über das Blatt, wie sie auf den Aus-

hängeschildern für möblierte Zimmer üblich
sind.

Eines \\ intermorgens im Jahre 1917 betrachtete
er von einer SicherheifsinseldesBoulevardRaspai]
aus stolz und hochmütig, wie ein General beiden
großen Manövern, die vorübersausenden Autos.
Es pfiff ein schneidender Ostwind. Kaum hatte er
mich bemerkt, da kam er auf mich zu und sagte
einfach, als handelte es sich um die überflüssigste
Sache von der N\ elt:

..Ich verkaufe dir meinen Überzieher, er ist zu
groß für mich . . . Dir wird er ausgezeichnet
passen."

Eines Tages setzte sich ein Kollege an seinen
Tisch. Er war verhungert und niemand wußte,
wovon erlebte. Ohne daß dieser es nun bemerkte,
ließ Modigliani einen Zwanzigfrankenschein auf
die Erde fallen, erhob sich und stieß das Geld
nachlässig mit dem Fuße fort:
„Schau, da liegt ja wohl ein Zehnfrankenschein?"
sagte er und ging schnell fort, als hätte er etwas
sehr W ichtiges vor.

Modigliani bot einem Händler für einen mehr
als mäßigen Preis einen Packen Zeichnungen
an. Der Mann redete anmaßend hin und her, um
den Preis zu drücken. W ortlos nahm daraufhin
Modigliani den ganzen Haufen, bohrte sorgfältig
ein Loch hindurch, zog einen Bindfaden ein, ging
hinaus und hängte das Paket in das \\. C.
Ich habe Modigliani gut gekannt, auch als er
am Verhungern war. Ich habe ihn betrunken
gesehen. Ich habe ihn mit viel Geld reich
gesehen. Aber niemals habe ich bei Modi-
gliani einen Mangel an Größe und Edelmut
bemerkt. Niemals hat mich an ihm die geringste
niedrige Begung überrascht. Ich habe ihn jäh-
zornig und erbittert darüber gesehen, daß er
feststellen mußte, wie weit manchmal das von
ihm verachtete Geld seinen V\ illen und Stolz
beherrschte.

Heute, wo alles geschminkt und beschönigt wird,
wo man glaubt, das Leben übergehen zu können,
wo alles Übertaxe, überschraubt, Übergebot
und Surrealismus ist, da verlieren gewisse Be-
griffe ihren wahren Sinn. Ich weiß nicht mehr,
wann ich die \\ orte ..Kunst" und ..Künstler" an-
wenden soll.

Heute ersetzt das Wort Künstler nutzbringend
das W ort „Bürger". Es wird von der Feuerwehr-
kaserne bis zum Kokainhändler gebraucht, die
Modistin und der Friseur, der Kurzwarenhänd-
ler nehmen es für sich in Anspruch. Es macht in
den Laboratorien und W arenhäusern die Runde:

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