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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 45.1929-1930

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Fischer, Karl I.: Kunst und Zweckform
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https://doi.org/10.11588/diglit.14160#0380

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Wege die Form immer voll-
kommener dem Zweck anpaßt.
Als Schöpfung ist sie eine kollek-
tive Leistung und behauptet
ihre Existenz nur als Gattung,
nicht als Einzelwesen, — zum
Unterschied von der Kunst-
form, die Anspruch auf ein
Einzelwesen machen kann, das
stets etwas Einmaliges ist und
daher nie wiederkehrt.
Das Lebensgebiet der Zweck-
form hat sich heute derartig
erweitert, daß viele Dinge, die
als Zweckform bezeichnet wer-
den, dem normalen Entwick-
lungsgang entzogen, als unaus-
gereifte Geburt auf das Publi-
kum losgelassen werden. Das
trifft nicht nur bei Gebrauchs-
gegenständen jeder Art zu, son-
dern in erster Linie bei der
Architektur,derbildenden Kunst
und dem Kunstgewerbe. Be-
einflußt durch schön gelöste,
vollendet durchgebildete und
ausgereifte, dem Zweck der
Form entsprechende Kunst-
werke, wird heute sehr oft
übersehen, daß Schönheit der
Zweckform nicht unbedingt ein
Kind unserer Zeit ist, sondern
als große, längst entwickelte
Kunst Jahrhunderte zurück-
liegt. Bereits die Alten verstan-
den, daß sie nicht in lauter

Zweckformen leben können „„ ttt,„t„t,

., „ . RICHARD KNECHT. BÜSTE BILDHAUER HENKE

— wie es viele Zeitgenossen

von uns verlangen — sondern Glaspalast München 1950

daß eine Unmenge von Dingen,
die wir im Leben benötigen
und die uns außerhalb der Arbeit

zur Freude und Erholung dienen, sich nicht einem Teile unseres Hauses niederläßt, z. B. in
in die Zweckform kleiden lassen, weil sie uns der Küche, im Bad, in der Garage usw., — und
näher stehen, in ein intimeres freundschaftliches vielleicht auch in einem Teil unserer Arbeits-
Verhältnis zu uns getreten sind und das nicht räume, — dagegen wird kein Vernünftiger etwas
bloß aus dem Zweckhaften, Nützlichen, aus einzuwenden haben, —■ in der feinen, humanen
der Welt der rationellen, abstoßenden Berech- Sphäre wird sie sich niemals halten können,
nung, sondern weil sie aus einer reineren, sitt- selbst dann nicht, wenn — wie in den letzten
lieh höheren Welt stammen. Jahren — mit allen erdenklichen Mitteln der

Es gibt Werte, die sich absolut nicht in die Propagandakunst der Versuch hierzu gemacht
Zweckform pressen lassen, die uns immer wie- wird. Die wahre, echte Kunst läßt sich nie ver-
der sagen, daß der Mensch nicht nur Zwecke, gewaltigen, nicht als reine Zweckform gestalten;
sondern Charakter und Gesinnung haben soll, versucht man es trotzdem und gelingt der Ver-
werte, die wesentlich ethisch bestimmt sind und such, so handelt es sich nicht um Kunst, sondern
sich nicht durch hohle Phrasen ersetzen lassen. um Technik, mit der man so tut, als ob sie
Erlauben wir ruhig, daß sich die Zweckform in Kunst wäre. Karl I. Fischer

Kunst für Alle, Jahrg. 45. Heft 11, August 1930

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