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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 46.1930-1931

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Diskussion über Fotografie, [2]
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DISKUSSION ÜBER FOTOGRAFIE

(Fortsetzung aas dem Novemberheft)

WILHELM HAUSENSTEIN [München):
Das Gewissen der Zeit fühlt dunkel, daß die neue-
sten Wendungen der Kunst enttäuschen; sie schie-
nen zu wenig herzugeben: man wurde an ihnen
nicht satt. Mißmutig, aus einer Art von Trotz,
kehrt das Bedürfnis sich dem Foto zu: hier habe
man doch mehr als bei der neuen Sachlichkeit;
■wenn man schon die Urkunde des W irklichen
wolle, so sei das „Lichtbild" zweckmäßiger, weil
es unmittelbarer und wahrer sei: verliere sich
die moderne Kunst aber im Abstrakten, in „sux-
realisme" und derlei Auskünften, so sei das Bild
der Wirklichkeit eben zwiefach dem fotografi-
schen Objektiv vorbehalten — und die „modernste"
Kunst selbst, nämlich die „abstrakte", scheine
sich ja bei dieser Arbeitsteilung zu beruhigen.
(In Parenthese: Dieser Tage las ichin einer brief-
lichen Kundgebung eines modernen Pariser Ma-
lers wörtlich, was folgt: „Die ,Natur' verdreckt
den Menschen schon allzulange; er muß gegen
die enorme Null kämpfen. die sich ,Natur
nennt."")

Die Neigung eines Interesses, das früher der
Kunst gehörte, hin zur Fotografie erweist sich
bei näherem Zusehen freilich als eine Art neuer
..Bichtung" — genauer gesagt: alsein Bichtungs-
ersatz, als ein technisch-ästhetischer Ersatz für
eine Bichtung, die aus einer dialektischen Weiter-
entwicklung der künstlerischen Programmatiken
nicht mehr gewonnen werden konnte. Und so
haben wir, ehe wir uns dessen versehen, eine Art
von Fotoinflation, in der ein umgeleitetes Kunst-
bedürfnis sich auf die sozusagen schöpferische
Neutralität der Linse beruft.

. .Dies ist eine der schlechtesten Eigenschaften des
mechanischen Porträts: daß es überfixiert. Der
Mensch kommt irgendwoher und geht weiter;
das Gesicht wandelt sich unter Affekten und Jah-
ren; aber das Fotogramm hat ihn fixiert, über-
fixiert, nämlich so sehr fixiert, wie er im Grunde
überhaupt nie fixiert werden konnte, weil ein
lebendes Gesicht — und sei es an Leben das
ärmste — einer Fixation dieser Art überhaupt
nie entsprechen kann. Das Maß von Geronnen-
heit, das dem Antlitz vom Fotogramm gegeben
wird, ist dem Gesicht in keinem Augenblick sei-
ner gültigen Erscheinung eigentümlich. Dies
Maß von Geronnenheit wird dem Antlitz vom
sogenannten „Objektiv" her überhaupt erst an-
getan.

. . In der Fotografie bleibt zwar die Hand des Men-
schen auch nicht aus dem Spiel; der Apparat ar-

beitet nicht allein; die Hand bedient ihn. Aber:
hier ist es dennoch wie überall in einer Welt, die
mit der Maschine lebt — die Hand dient dem
Apparat, nicht der Apparat der Hand; die Hand
ist vom Mechanischen mediatisiert. und so ver-
geht das Unmittelbar-Menschliche ihrer V\ ir-
kung.

Wir wTerden also, wenn wir das Gesicht des Men-
schen kennenlernen wollen, doch auf den Maler
und auf den Schriftsteller angewiesen sein. Wenn
dies erkannt ist, so ist nun freilich viel erkannt —
auch über das besondere Thema, über den An-
laß hinaus.

"Wie war es, als man noch Bildnisse malen konnte
(was man, die Welt weiß es, heute nicht mehr
kann, fast nicht mehr kann — woran allerdings
auch die Verminderung des Gesichts selbst die
Schuld trägt, nicht nur die abnehmende Stärke
der Porträtkunst) — wie war es, als man Bild-
nisse noch malte? Da sah das Auge des Malers
im hergehaltenen Gesicht das Ganze eines mensch-
lichen Lebens. Es war eine w-irkliche „Synopsis" :
ins Bildnis kam Geburt und Tod, Leiden und
Liebe, ja das Vorher und Nachher — der ganze,
schon ins Unendliche geöffnete Bogen desMensch-
lichen. Ich weiß: etwas von diesen Dingen kann
auch im Fotogramm sein — etwas, aber nicht
soviel und nicht so unmittelbar Hereingefühl'•-
und nicht mit so großer Einläßlichkeit Empfun-
denes, Bewahrheitetes. Das Fotogramm ist S
gramm: es ist zu eng; es hat nicht die Breite
der natürlichen Schrift; es wendet zu wrenig Zeit
auf — denn es lebt mehr oder weniger aus dem
„Moment".

MAX PICARD:

.. DasmenschlicheAugenimmtnichtbloß wiedie
fotografische Kamera ein Gesicht auf, das es be-
trachtet; das Sehen besteht nicht bloß in einem
Nehmen, der menschliche Blick gibt dem an-
deren Gesicht auch, indem er es betrachtet, ja
er gibt sogar mehr als er nimmt. Und ein
Menschengesicht lebt davon, daß es von einem
anderen Menschengesicht angeschaut wird. Es
lebt nicht nur von seinem eigenen Wesen her,
es ist angewiesen auf den Blick, der vom Auge
eines anderen Menschen zu ihm kommt. Ein
Menschengesicht verwirklicht sich überhaupt
erst durch den Blick eines anderen Menschen-
gesichts, es wächst in der "Wärme eines Blickes, es
geht wirklich darin auf, es nimmt zu ar wesen-
hafter Substanz, denn es empfängt vom Blick

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