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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 46.1930-1931

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Ueber Wasser, Walter: Die Kunst Heinrich Altherrs
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DIE KUNST HEINRICH ALTHERRS

Gibt es ein gefährlicheres Alter für den Künst-
ler als um fünfzig herum? Zwanzig-, dreißig-
jährig-, waren sie alle tüchtig, da trug sie die
Zeitwoge. Noch die Vierzigjährigen repräsen-
tieren zusammen, in einer Kelte von Kamerad-
schaft. Aber die Fünfzigjährigen werden von den
Y\ eilen der nächsten Generation schon umspült :
da gilt nur. wer Fuß gefaßt hat, wer wächst.
Lnd nichts menschlich Packenderes gibt es, als
dieses fortgesetzte Wachsen eines Menschen in
einem Alter, wo gemeinhin ein Stillstand, ja
schon der Abbau beginnt. Alle nur Talentierten
hören da auf, sie ersterben in W iederholungen,
gehen zugrunde in Manieren, aber die geistig
Y\ achsenden ergreifen, wie die großen Bäume
im Walde, die alten Buchen, die gewaltigen
Eichen, die das volle Ausmaß, den Charakter in
seiner ganzen Prägung vorführen. Neben dem
Entzücken des ersten jungen Sprossens sind es
gerade die Wunder der hohen Reife, die einen
hinreißen in der Natur. E nd ebenso in der Kunst.
Rembrandt war immer vortrefflich, aber hin-
reißend ist der junge und wieder der späte Rem-
brandt, nach der Mitte seines Lebens, wo er sein
Altern, wie früher sein Erwachen in leuchten-
des Leben verwandelte.

Freilich scheint es in der neueren Zeit oft, als
ob die Spanne zwischen diesen beiden Perioden
allzu groß oder auch kaum erreichbar sei. Man
liebt den frühen Beethoven, den jungen Böcklin,
Hodler in seinem Beginn, solange das Talent
noch in der Zeitwoge als frische ^ eile aufwallt.
Aber den Sturz der Woge, den strengen Guß
der Persönlichkeit, der im EJmschlag aller Strö-
mungen erfolgt, den versteht man nicht mehr,
man ..haßt" den späten Böcklin, und doch er-
weist sich da der ganze, der ausgereifte, der an
das Letzte streifende Wuchs eines Menschen.
Heinrich Altherr ist heute ein Zweiundfünfziger.
Eine Gesamtschau seines Schaffens vereinigte
kürzlich in seiner Heimatstadt Basel gegen
hundert seiner Wrerke. Das Beglückende, sofort
Hinreißende war, daß dieser Künstler noch
wächst, in einer tiefen inneren Entwicklung,
die im sechsten Jahrzehnt seines Lebens die
schönsten A ollenclungen verheißt.
Er begann um die Jahrhundertwende zusammen
mit einer ganzen W7oge junger Basler Künstler,
unter denen Carl Burckhardt, der Bildhauer,
und A. H. Pellegrini, der Maler, weiterhin be-

kannt geworden sind. Er studierte in München,
dann in Rom. Der harmonische Klang Marees-
scher Kompositionen ist auf seinen frühen viel-
figurigen Bildern fühlbar, die bald in Kirchen
und öffentlichen Bäumen (in Basel, Darmstadt,
Karlsruhe, Elberfeld, Zürich) Eingang fanden.
Schon 1906 wirkt er an der Karlsruher Aka-
demie, von 1913 an in Stuttgart. Aber dieses
äußere Raum-Gewinnen wäre nichts, wenn ihm
nicht zugleich der innere gelänge. Noch immer
ist der aus der toten Leinwand oder Mauerfläche
auferweckte „Raum" das geheimste Wunder,
mit dem ein Künstler beschenkt und beglückt.
Wir leiden ja alle an Raummangel, äußerlich
und innerlich: wir ersticken an der Dichte der
zusammengeballten, gepreßten Erscheinungen,
in denen wir leben, sei das die undurchdring-
liche asphaltene Straße, auf der wir gehen, oder
der undurchsichtige entsetzliche Krieg, der alle
VS ände der Seele verhärtet oder zerrüttet hat.
Man kann dies Raumverlangen wahrnehmen als
Qual in den sich überstürzenden, völlig durch-
schneidenden, zersplitternden Körpern und
Hohlformen der Expressionisten, man kann es
wahrnehmen wie einen mit leichter,faltenglättcn-
der Hand unternommenen Trostversuch in den
sauber abgemessenen Bildräumen der „neuen
Sachlichen1-. Bei Altherr ist der Raum etwas
viel Intimeres; er beruht ganz auf der Farbe,
auf ihrer Nähe oder Ferne, Kälte oder Wärme,
süßer Sammlung oder spröder Zerstreuung,
fast möchte man sagen auf dem Dürsten oder
Sattsein seiner Farbe.

Es ist ein instinktiver, ein mit allen Sinnen
wahrgenommener Raum, so wie ein Tier Raum
„spürt", niemals als eine doch immer höchst
intellektuelle Zusammenfassung perspektivischer
Linien, sondern anders, urhafter, als Gebunden-
heit an die Stelle, wo es trinken kann, oder als
furchtbarer Druck und Drang, die Flur in
Furcht, in Not zu durcheilen, in solchen Gegen-
sätzen, die das Geflecht seiner Tage und Nächte
schaffen. Lnd ist unser Inneres (das, was man
früher „Seele" nannte) nicht ebenso sehnsüch-
tig nach der eigenen Stelle und Einstellung oder
flüchtig und furchtsam wie ein Tier? Diesen
psychischen Raum kann die Farbe vermitteln.
Altherrs Farbe hat etwas Fließend-Flüssiges,
wie schweres Wasser, das über einen herein-
bricht. Das ist der Eindruck, der den Beschauer

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