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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 46.1930-1931

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Bachhofer, Ludwig: Der tanzende Schiwa
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https://doi.org/10.11588/diglit.16478#0391

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n. Chr., präsentiert sich Schiwa bereits als vier-
armiger Gott.

In späterer Zeit. d.h. vom Ende des ersten Jahr-
tausends n. Chr. an. wird Schiwa immer mehr
zur beherrschenden Gottheit, und eine seiner
eindrücklichsten und beliebtesten Erscheinunes-

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formen wird die des Nataraja, die den Gott
darstellt, wie er im Tanze die Welt zerstört: in
einem Flammenkreis, eine Flamme aus einer
Hand emporlodernd, in der andern Hand eine
Trommel, so zertritt der Gott einen Zwerg, der
nichts anderes ist als die „Unwissenheit" oder
die „Täuschung", die den Sinn der Menschheit
gefangen hält.

Die ganze Figur ist geladen mit Symbolik, bis
in die letzten Formen hinein: so findet sich im
flatternden Haar die Göttin des heiligen Ganges,
die Schiwa einst bei ihrer Ilerabkunft vom
Himmel mit seinen Haaren aufgehalten und
lange darin gefangen gehalten hatte, in der
Gestalt einer kleinen W assernymphe, halb Fisch,
halb W eib. Ihr entspricht auf der anderen Seite
ein Rad, das Symbol der Herrschaft, eigentlich
ein Attribut des Gotles Vishnu; es erscheint
manchmal durch die Mondsichel ersetzt, die
sich hier seitlich an dem Kopfschmuck aus
Cassia-Blättern angebracht findet, dessen Mitte
ein abgewetztes, knopfartiges Gebilde einnimmt:
das ist ein Totenschädel, denn Schiwa ist zu gleich
der Große Asket, der sich an den Leichenstätten
aufhält. Bemerkenswert ist ferner, daß Schiwa
zweierlei Ohrringe trägt, einen in der Form der
Männer- und einen in der Form der Frauen-
ohrringe, um anzudeuten, daß der Gott die
zeugenden Potenzen beider Geschlechter in sich
vereint.

Man kann sich natürlich auf den Standpunkt
stellen, daß man das alles nicht zu wissen
brauche, um der gewaltigen künstlerischen
Leistung gerecht zu werden, die ein solcher tan-
zender Schiwa darstellt, daß man den Schwung,
die Grazie und die Schönheit dieses bewegten
Körpers getrennt von allem Ausdrucksgehalt
genießen könne: doch wird man dann allzu
leicht Gefahr laufen, eine solche Figur mißzu-
verslehen und ihr W irkungsabsichten unter-
schieben, die der ursprünglichen Absicht zuwi-
derlaufen. Denn was wird man erst sagen, wenn
man hört, daß es sich bei derartigen Werken
nicht um Lösungen handelt, die dem freien
Ermessen des Bildners überlassen waren, sondern

um Figuren, bei denen jede Stellung, die des
Kopfes, des Rumpfes, der Extremitäten, ja bis
hinein in die Haltung der Finger, und dann
noch die Proportionen des Ganzen durch einen
strengen Kanon vorgeschrieben waren? Ens
Europäern erscheint der Gedanke unerträglich,
daß der gestaltenden Kraft des Künstlers gar
nichts zu tun übrig gelassen wurde, dem Hindu-
Bildhauer war er selbstverständlich, denn für
ihn war es ausgemacht, daß er sich nur in den
alten, durch jahrhundertelange Tradition ge-
heiligten Formen aussprechen dürfe, wenn sein
Werk irgendwelchen kultischen Wert haben
sollte. Indische Plastik ist unbedingter als die
Plastik irgendeines anderen Landes religiöse
Plastik, und Werke wie der tanzende Schiwa sind
in erster Linie magische Hilfsmittel, um auf die
Gottheit einzuwirken. Das läßt das Vorschrifls-
wesen und seine Vormachtstellung verstehen,
das Künstlerische kommt erst in zweiter Linie :
ja es kann sogar völlig fehlen, ohne daß der
kultisch-magische Wert dadurch irgendwie
Schaden erlitte.

Damit erklärt sich auch die große Menge künst-
lerisch unbedeutender und sogar minderwertiger
Stücke, denn ein Handwerker konnte bei ge-
nauer Einhaltung der Regeln einen Auftrag
ebenso gut lösen wie ein Genie. Geniale Bildner
waren auch in Indien selten, und so kommt es,
daß verhältnismäßig sehr wenige Bronze- oder
Steinplastiken sich aus dem Meer handwerks-
mäßiger Götterbilder herausheben. Das hier
vorgeführte Exemplar, vollendet in der Durch-
bildung des Körpers, im Zusammenklang der
Formen, im Schwung und in der Wahrheit der
Bewegung, gehört zu den schönsten Exemplaren
in außerindischem Besitz. Gerade die Darstellung

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der Bewegung ist das untrüglichste Kriterium.

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ob man es mit einem Kunstwerk oder mit einem
geistlosen Machwerk zu tun hat: hier entwickelt
sich ein Bewegungsmotiv schön und lange vor-
bereitet aus dem andern, wo ein frommer Hand-
werker Arme und Beine in leblos starren
Brechungen wiedergibt.

Die Bronzefigur stammt aus Südindien und
scheint, worauf die Abnützung schließen läßt,
lange Zeit verehrt worden zu sein. Im Stil
ähnelt sie dem berühmt gewordenen Schiwa
Nataraja aus Bellur, der ins Jahr 15 n n. Chr.
datiert ist. Man wird also nicht fehl gehen, wenn
man diesen Schiwa um 1500 n. Chr. ansetzt.

Ludwig Bachhofer

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