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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 46.1930-1931

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Kehrer, Hugo: Italien und das deutsche Formgefühl, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16478#0413

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V\ ölfflin gliedert den Stoff nun so, daß er auf
folgende Begriffe hin die klassische italienische
und die zeitgenössische deutsche Kunst unter-
sucht: Gestalt und Umriß : die gesetzmäßige
Ordnung; Gliederung und Ganzheit : die lässige
Spannung; das Große und Einfache: das Typi-
sche und Allgemeine; die Reliefauffassung, die
Klarheit und der Gegenstand der Kunst. Die
streng durchgeführte \ ergleichung erhärtet die
unleugbaren Gegensätze, die nun einmal zwi-
schen dem Norden und dem Süden bestehen.
Nach der bekannten Methode werden Architek-
tur, Plastik und Malerei abgefragt, zur Prüfung
aufgerufen, zur Rede gestellt, und wenn auch
für die Kenner des W ölfflinschen Systems vieles
bekannt sein dürfte, so wird doch immer wieder
eine neue Formulierung gefunden, und diese ist
mit einer so monumentalen Schlagkraft vorge-
tragen, daß man glauben möchte, man erfahre
den Inhalt dieser lapidaren Sätze wirklich zum
ersten Male! Und doch ist es mehr als eine Wie-
derholung der früheren schöpferischen Gedan-
ken, mehr als nur eine neue Formulierung eigen-
ster Ideen. Die Kreise werden weiter gezogen;
Wölfflin beschäftigt sichjetzt mit dem Deutschen
fast mehr als mit dem Italienischen, ja, das ganze
Thema „Italien" ist überhaupt nur aufgenommen
in seiner Bedeutung für uns Deutsche. Und so
macht man erfreut die Feststellung, daß Wölfflin
doch bis ins Innerste seiner Seele hinein deutsch
fühlt. So sagt er einmal: „Bekennen wir es offen:
es wird uns schwer, die absolute Harmonie der
Italiener zu ertragen", und „vielmehr erleben
wir die dumpfen Bindungen der Form, das Rin-
gende und YS erdende statt des Reifen und Voll-
endeten als ein Glück, dem gegenüber die satte
italienische Schönheit uns zwar auf Augenblicke
als Befreiung erscheinen kann, wo wir aber im-
mer wieder in die dunkleren Sphären des Un-
gesättigten zurückzutreten das Verlangen haben."
Wie tief interpretiert nunmehr der große Er-
kenner des italienischen Geistes auch die deut-
sche Plastik, wie tief hat er die besondere Schön-
heit eines Leinbergerschen Apostels oder gar die
des Breisacher Hochaltars vom Meister H. L. er-
lebt! Er spricht davon, wie ein Teil der plasti-
schen Form „in den Mantel verströmt'', wie ein
Formaufruhr im Ganzen entstehen könne, wie
dann selbst bei großem W urf immer noch „ein

paar Nester von Kleinfalten" sich finden lassen,
in die sich eine intimere Phantasie „einhängen"
kann: „Man hat die nordische Draperie nicht
verstanden, wenn man sie nicht in ihrer Funk-
tion als Bewegungsleiter begriffen hat!"
Überall spürt man die Meisterschaft in der Knapp-
heit der Charakteristik, erlebt man die W ucht der
Bildhaftigkeit des Ausdrucks; viele seiner Sätze
prägen sich uns tief ein ; sind so geformt, als ob
sie gar nicht anders lauten könnten. Man muß
ein paar Beispiele dieser eigenartigen W ölfflin-
schen Diktion an dieser Stelle einmal bringen.
So heißt es: „Spätgotischer Barock, da vergeht
einem von Anfang an der Appetit", oder: „wieder
erlebt man, daß die Proportion einen geradezu an-
springt"; oder: „ohne gerade Linien und rechte
Winkel könnte man nicht leben" ; „bei der kla-
ren Harmonie von Dürers Lukrezia ist es jeden-
falls noch niemandem warm geworden", und
endlich beim „Adam" Riemenschneiders spricht
W ölfflin von „der aufdringlichen Schamblatt-
pflanzung!"

Wie Wölfflin die klassische Kunst heute noch
sieht, wie er sie immer gesehen hat, wird in die-
sem jüngsten Buche ..Italien und das deutsche
Formgefühl" noch einmal vollkommen verdeut-
licht. Indessen darf man eines nicht verschwei-
gen: man kann die italienische und deutsche
Kunst in dem zeitlichen Ausschnitt von 1/190 bis
1530 auch anders sehen ; es sind noch andere Er-
klärungsmöglichkeiten denkbar. Man würde
aber W ölfflin sicherlich falsch verstehen, wenn
man dächte, er verlangte, so wie er sollte man
auch für alle Zeiten über die italienische und
deutsche Kunst denken.

Wie auch die Zukunft über diese Probleme ur-
teilen mag, an W ölfflin bewundern wir die Treue,
mit der er an den von ihm einmal völlig selb-
ständig erdachten und geprägten Begriffen fest-
gehalten hat. W ölfflins Buch ist ein echt klas-
sisches Buch, es wird in der W elt gelesen wer-
den, solang es den Typ einer künstlerisch emp-
findenden und denkenden Menschheit gibt; alles
ist vom Ethos einer außergewöhnlichen Persön-
lichkeitgetragen: eine geistige Höhe von seltener
Art ist hier erreicht, die Sprache kristallhell und
klar, man findet Sätze niedergeschrieben, die man
wie die berühmten Stellen unserer klassischen
Dichter der Goethezeit lesen wird. Hugo Rehrer

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