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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Editor]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 58.1922/​1923 (Oktober-März)

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Nr. 3
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Kubin, Alfred: Von verschiedenen Ebenen
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https://doi.org/10.11588/diglit.41225#0050

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Von verfdiiedenen Ebenen

zeigt und gewiß inniger als alle diele Arbeiten der »Schulen«, die fo gräßlich
langweilig fein können. — Und dann unfere Tage! Mag man über unfere
neue Kunft denken, wie man will, eines läßt lieh nicht beitreiten: fie hat das
Gebiet des Genußes wefentlich erweitert. Wir erfaßen den heimlichen Reiz
des Verquälten, mühen uns um die merkwürdigen Äußerungen malender und
zeichnender Kinder, verfudien den Fetifchen ozeanifcher oder füdamerikanifcher
Völker tiefere Erregungen abzugewinnen, beobachten die graphifchen Pro-
duckte von Hypnotifierten oder Medien, ja felbft in den Irrenanftalten beachten
wir den rätselhaft aufflammenden Kunlttrieb mancher Geifteskranken,
Der Zeichner wird fich natürlich auch mit diefen Dingen wie überhaupt
mit jeder Erfcheinung, die fich ihm aufdrängt, auseinanderfetzen, ohne fich
ihnen aber irgendwie gänzlich zu verfchreiben. Abhängen kann er nur von
der eigenen Art. Sie ift chaotifch und fruchtbar genug in fich, und die Rechen~
fchaft, die er fich über fein Tun gibt, veranlaßt ihn, das Schickfal feiner Kunft
ftets feft in der Hand zu halten, ja das Gelernte äußerftenfalls zu zertrümmern,
um mutig aus der Kataftrophe Neues aufzubauen. Diefer überrafchende Weg
wird hin und wieder einzufchlagen fein. So erklärt fich wohl mancher erftaun-
liche Umfchwung, von der linearen zur mehr malerifchen Methode und durch
alle Kombinationen wieder zurück.
Halb rätfelhaft fremd, halb innig vertraut umgeben den Zeichner die
felbftgefchaffenen Blätter. O welch ein Geheimnis birgt doch diefe Kunft der
Seele, welche der Poefie und der Mufik näher verwandt ift wie der Malerei,
mit der fie die Schulung von Aug und Hand und das greifbare »Werk«
wieder gemeinfam hat! Es läßt fich fagen; alle bildenden Künftler zeichnen
mehr oder weniger ftark. Der »Zeichner« als Typus, wie ich ihn hier ent-
warf, ift ein Idealfall, der in der Gefellfchaft nie völlig eindeutig umgrenzt
erfcheint. Seine Art ift jedoch durchaus verftändlich und fehr vielen Menfchen
angeboren. Sie zum Beruf zu machen, fehlt es meift an der Selbftbefcheidung,
denn diefer ift ausgefprochen unwirtfchaftlich.
Nur im fernen Often, im alten China, fehen wir, wie fich große Mei-
fter in glücklichen Perioden einer edlen Schwarzweißkunft völlig hingeben und
einen großartigen Originalftil entwickeln. Ihnen war — ich glaub's den Bildern
und Büchern, die davon berichten, gerne —' ihre Kunft zugleich Religion und
Dichtung, zu ihrer Ausübung bereiteten fie fich weihevoll und in Abgefchieden-
heit vor. Für unfer europäifches Tempo wäre das etwas zu umftändlich,
wir treffen auf unferm Wege den Sinn.
An Erfahrung Schwer, leicht an Gepäck und heiteren Gemüts erfreut fich
der Zeichner der wunderbaren Einfachheit feiner Kunft, die es ihm erlaubt,
mit Feder, Tufche und Papier auszukommen. Er zaubert fich feine Dinge
und erfindet und begründet Unmöglichkeiten. Durch Zügelung fchult er jahre=
 
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