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Literatur
Gemme. InfolgedefTen gliedert er die ganze
Malle nur in zwei Hälften, in die antiken
und die nachantiken Arbeiten und ordnet
das Material innerhalb jeder diefer beiden
Hälften nach ikonographifchen Typen. Diefe
Ordnung bietet den Reiz, daß die Abwand-
lung eines Typs, diefe wunderbare Bewege
lichkeit innerhalb eng gezogener Grenzen,
gut zum Ausdruck kommt,- fie hat auch zur
Folge, daß die Frage nach der Orginalität
von Erfindung und Arbeit an Wichtigkeit
zurücktritt und eine Liberalität der Aus-
wähl ftatthaft wird, die etwa gegenüber der
ftrengen Auffaflung Furtwäglers auffallend
ift. Einer der köftlichften Anreize, die die
Befchäftigung mit irgend einer Art von
Kunft uns heutigen Menfchen bietet, die
unmittelbare Berührung mit urfprünglicher
Schöpferkraft, verliert fich in der Fülle
breiterer Durchfchnittsproduktion.
Erfcheint es fchon beim erften Teil des
Werks zweifelhaft, ob es ganz glücklich
war, von allen Entwicklungsmomenten —
auch auf den einzelnen Tafeln — völlig
abzufehen und einen etwas veralteten
Oberbegriff des antiken Stils fchlechtweg —
von Infelfteinen bis zu Ipätrömifchen Ka-
meen —- zu fetzen, fo ift lieber, daß für die
der neuen Zeit gewidmete zweite Hälfte
die Unterordnung unter das gleiche Schema
höchft nachteilig ift. Die antiken Motive
werden in der Renailfance und im Klaffizis-
mus wieder aufgenommen, aber fie bleiben
doch hier in grundfätzlich anderem Ver-
hältnis zum geiftigen Leben als in der
Antike. Hier waren iknographifcher und
formaler Typ Blüten eines Stammes, fo
eng verfchwiftert, daß das Leben des einen
auch das des andern ift,- innerhalb der
chriftlichen Kunft führen die gleichen Mo-
tive nur e'in abgeleitetes Dafein und ihr
Zufammenhang mit der Formentwicklung
ift infolgedelfen ein ganz anderer. Auch
hier die Pofeidons, Aphroditen und Bao
dhuffe zufammenzuftellen, kann nur den
Reflex antiker Kunft in der fpäteren ent-
hüllen. InfolgedefTen ift die Auswahl des
Materials auch durchaus klaffiziftifch ein-
feitig,- große und wichtige Richtungen der
fpäteren Glyptik bleiben unberückfichtigt,
weil die Beziehung zur Antike minder
hervortritt. Die nachantiken Erzeugnifle
kommen fohin durch diefe Zufammenftellung
noch mehr als die antiken um jeden Eigen-
wert, was fich auch darin ausdrückt, daß
die fehr forgfältig gearbeiten Anmerkungen
ihren Aufbewahrungsort nicht angeben,-
die künftlerilche Eigenleitung tritt gegen-
über dem antikifierenden Motiv, das auch die
Pafte ausreichend widergibt, an Wert völlig
zurück.
Trotz diefer Einwendungen, die ich aus
dem Gefichtswinkel des Kunfthiftorikers zu
erheben habe, kann ich nicht umhin,' das
Buch reizend zu finden. Es bietet eineFund-
grübe nicht nur künftlerifcher Anregung,
fondern auch kunfthiftorifchen Materials,-
denn gerade durch jene vorhin angefochtene
Wiedereinführung des ahiftorifchen Be-
griffes der »Antike« erhielt diefe wieder
etwas von der übergefchichtlichen Bewertung,
die ihr gewiße Renaiflanceperioden verliehen.
Der Prozeß der Überleitung des antiken
Motivenfchatzes in die Vorftellungswelt der
fpäteren Jahrhunderte wird durch diefen
Sammelband nicht nur der Kenntnis, fondern,
was vielleicht für das hiftorifche Verftändnis
noch wichtiger ift, dem ahnenden Ein-
fühlungsvermögen näher gebracht,
H. Tietze
*
Der Stil in den bildenden Künften
aller Zeiten von Georg Hirth. 1. Band.
Der Schöne Menfch im Altertum.
Eine Gefchichte des Körperideals bei
Ägyptern, Orientalen, Griechen von Heim
rieh Bulle, Profeffor der Archäologie an
der LIniverfität Würzburg. 3. Auflage,
München 1922.
Das Wiedererfcheinen diefes feit längerem
vergriffenen, 1912 in 2. Auflage völlig neu
geftalteten und feither 'weitverbreiteten
Werkes begrüßt man mit lebhafter Freude.
Nicht nur wird in 322 Tafeln und 171 Text-
abbildungen ein reicher und überaus köft-
lieber Stoff vor dem Lefer ausgebreitet,
fondern es wird auch auf 208 Seiten eine
von dem Gedanken gefchichtlicher Ent-
Wicklung getragene und doch jedem KunfL
werke als Einzelwefen liebevoll gerecht wer-
dende Erläuterung gegeben. Diefer glaubt
man zwar heute öfter entraten zu können,
m. E, aber fehr mit Unrecht. Denn die
zahlreichen Bilderbücher über antike Kunft
mit kurzem Text, die fich feit einigen Jahren
auffällig Ichnell vermehrt haben, bedeuten
Literatur
Gemme. InfolgedefTen gliedert er die ganze
Malle nur in zwei Hälften, in die antiken
und die nachantiken Arbeiten und ordnet
das Material innerhalb jeder diefer beiden
Hälften nach ikonographifchen Typen. Diefe
Ordnung bietet den Reiz, daß die Abwand-
lung eines Typs, diefe wunderbare Bewege
lichkeit innerhalb eng gezogener Grenzen,
gut zum Ausdruck kommt,- fie hat auch zur
Folge, daß die Frage nach der Orginalität
von Erfindung und Arbeit an Wichtigkeit
zurücktritt und eine Liberalität der Aus-
wähl ftatthaft wird, die etwa gegenüber der
ftrengen Auffaflung Furtwäglers auffallend
ift. Einer der köftlichften Anreize, die die
Befchäftigung mit irgend einer Art von
Kunft uns heutigen Menfchen bietet, die
unmittelbare Berührung mit urfprünglicher
Schöpferkraft, verliert fich in der Fülle
breiterer Durchfchnittsproduktion.
Erfcheint es fchon beim erften Teil des
Werks zweifelhaft, ob es ganz glücklich
war, von allen Entwicklungsmomenten —
auch auf den einzelnen Tafeln — völlig
abzufehen und einen etwas veralteten
Oberbegriff des antiken Stils fchlechtweg —
von Infelfteinen bis zu Ipätrömifchen Ka-
meen —- zu fetzen, fo ift lieber, daß für die
der neuen Zeit gewidmete zweite Hälfte
die Unterordnung unter das gleiche Schema
höchft nachteilig ift. Die antiken Motive
werden in der Renailfance und im Klaffizis-
mus wieder aufgenommen, aber fie bleiben
doch hier in grundfätzlich anderem Ver-
hältnis zum geiftigen Leben als in der
Antike. Hier waren iknographifcher und
formaler Typ Blüten eines Stammes, fo
eng verfchwiftert, daß das Leben des einen
auch das des andern ift,- innerhalb der
chriftlichen Kunft führen die gleichen Mo-
tive nur e'in abgeleitetes Dafein und ihr
Zufammenhang mit der Formentwicklung
ift infolgedelfen ein ganz anderer. Auch
hier die Pofeidons, Aphroditen und Bao
dhuffe zufammenzuftellen, kann nur den
Reflex antiker Kunft in der fpäteren ent-
hüllen. InfolgedefTen ift die Auswahl des
Materials auch durchaus klaffiziftifch ein-
feitig,- große und wichtige Richtungen der
fpäteren Glyptik bleiben unberückfichtigt,
weil die Beziehung zur Antike minder
hervortritt. Die nachantiken Erzeugnifle
kommen fohin durch diefe Zufammenftellung
noch mehr als die antiken um jeden Eigen-
wert, was fich auch darin ausdrückt, daß
die fehr forgfältig gearbeiten Anmerkungen
ihren Aufbewahrungsort nicht angeben,-
die künftlerilche Eigenleitung tritt gegen-
über dem antikifierenden Motiv, das auch die
Pafte ausreichend widergibt, an Wert völlig
zurück.
Trotz diefer Einwendungen, die ich aus
dem Gefichtswinkel des Kunfthiftorikers zu
erheben habe, kann ich nicht umhin,' das
Buch reizend zu finden. Es bietet eineFund-
grübe nicht nur künftlerifcher Anregung,
fondern auch kunfthiftorifchen Materials,-
denn gerade durch jene vorhin angefochtene
Wiedereinführung des ahiftorifchen Be-
griffes der »Antike« erhielt diefe wieder
etwas von der übergefchichtlichen Bewertung,
die ihr gewiße Renaiflanceperioden verliehen.
Der Prozeß der Überleitung des antiken
Motivenfchatzes in die Vorftellungswelt der
fpäteren Jahrhunderte wird durch diefen
Sammelband nicht nur der Kenntnis, fondern,
was vielleicht für das hiftorifche Verftändnis
noch wichtiger ift, dem ahnenden Ein-
fühlungsvermögen näher gebracht,
H. Tietze
*
Der Stil in den bildenden Künften
aller Zeiten von Georg Hirth. 1. Band.
Der Schöne Menfch im Altertum.
Eine Gefchichte des Körperideals bei
Ägyptern, Orientalen, Griechen von Heim
rieh Bulle, Profeffor der Archäologie an
der LIniverfität Würzburg. 3. Auflage,
München 1922.
Das Wiedererfcheinen diefes feit längerem
vergriffenen, 1912 in 2. Auflage völlig neu
geftalteten und feither 'weitverbreiteten
Werkes begrüßt man mit lebhafter Freude.
Nicht nur wird in 322 Tafeln und 171 Text-
abbildungen ein reicher und überaus köft-
lieber Stoff vor dem Lefer ausgebreitet,
fondern es wird auch auf 208 Seiten eine
von dem Gedanken gefchichtlicher Ent-
Wicklung getragene und doch jedem KunfL
werke als Einzelwefen liebevoll gerecht wer-
dende Erläuterung gegeben. Diefer glaubt
man zwar heute öfter entraten zu können,
m. E, aber fehr mit Unrecht. Denn die
zahlreichen Bilderbücher über antike Kunft
mit kurzem Text, die fich feit einigen Jahren
auffällig Ichnell vermehrt haben, bedeuten