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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Nr. 2
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Aktuelle Themen
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Siegers, Josef: Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt an die gymnasiale Bildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0063

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Eine der wichtigsten Verklammerungen zwi-
schen Beschäftigungssystem und Bildungssy-
stem besteht in der Beruflichkeit, der Professio-
nalität der Menschen. Innerhalb des Beschäfti-
gungssystems wird sie repräsentiert durch den
Beruf, also die Klassifizierung der Tätigkeit des
einzelnen in der arbeitsteiligen Wirtschaft. Sein
Gegenstück in der Bildungswelt ist die berufli-
che Bildung als die Vorbereitung auf die nach-
folgende Berufstätigkeit. Damit bin ich auf die
klassische Binnendifferenzierung innerhalb des
Bildungssystems gestoßen, nämlich auf die
Unterscheidung von beruflicher und allgemeiner
Bildung, wie sie sich in besonders ausgeprägter
und ausgezeichneter Form im Gymnasium ab-
spielt. Mag es immerhin noch gute Gründe für
die Frage geben, welche Ziele, Inhalte und Pro-
zeduren die berufliche Bildung im Hinblick auf
den späteren beruflichen Einsatz zu erfüllen hat,
so erscheint es höchst problematisch, wenn
nicht gar völlig unzulässig, diese Frage auch auf
die zweckfreie und funktionsunabhängige all-
gemeine Bildung auszudehnen. Wenn ich die
Bildungsgeschichte der letzten 100 Jahre über-
blicke, dann dürfte es nicht ganz falsch sein
anzunehmen, daß ein Thema wie das unsrige
um 1900 oder auch noch in den 20er Jahren auf
Unverständnis, wenn nicht gar auf Ablehnung
gestoßen wäre.
Trotz der Sperre, die möglicherweise auch Sie
der Funktionalisierung der gymnasialen Bildung
entgegensetzen werden, möchte ich den Ver-
such unternehmen, Ihnen bestimmte Anforde-
rungen und Erwartungen der Arbeitswelt an die
gymnasiale Bildung zu vermitteln. Ich möchte
dies um so nachdrücklicher deswegen tun, weil
meiner Meinung nach gerade das Gymnasium
ganz bestimmte Züge aufweist, die es als Pro-
paideutikum für die moderne Berufswelt beson-
ders geeignet erscheinen lassen.
Ich werde den Gang meiner Überlegungen so
organisieren, daß ich in einem ersten Kapitel
über die Umwälzungen in der modernen Wirt-
schaft spreche, zweitens die daraus sich erge-
benden Änderungen in der Arbeitswelt be-
schreibe, hieraus drittens die Qualifikationsan-
forderungen an den modernen Arbeitnehmer-

Typus ableite und schließlich viertens aus all
dem einige Postulate, Erwartungen und Anre-
gungen an die gymnasiale Bildung herausdestil-
lieren möchte.
I. Strukturveränderungen in der modernen
Wirtschaft
Wirtschaftliches Geschehen in modernen Ge-
sellschaften ist von jeher durch eine besondere
Dynamik gekennzeichnet. Der wissenschaftlich-
technische Fortschritt, der allgemeine Wettbe-
werb und das konjunkturelle Auf und Ab erzeu-
gen einen ständigen Wandel. In den letzten Jah-
ren sind jedoch einige besonders bedeutsame
Entwicklungslinien hinzugetreten, die diese
allgemeinen Veränderungsprozesse forcieren
und prägen.
Da ist zunächst das Phänomen der Globalisie-
rung der Wirtschaft: der Wandel nämlich von
der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft. Offene
Grenzen weltweit, Wegfall des Eisernen Vor-
hangs, Liberalisierung des Handels, rund um
den Globus laufende Kapitalströme und ein
durch moderne Kommunikationstechniken er-
möglichter weltweiter Informationsaustausch
haben dazu geführt, daß die Produktion von
Gütern und die Erbringung von Dienstleistun-
gen heute fast beliebig an jedem Ort der Welt
stattfinden können, also auch ohne weiteres von
hier nach dort verschoben werden können. Die
früher geschlossene deutsche Volkswirtschaft,
die nur über Export und Import mit der Wirt-
schaft draußen verbunden war, ist heute ein
Haus mit offenen Türen, durch die Menschen,
Waren, Kapital und Informationen frei aus- und
eingehen können. Wir sind auf dem Weg weg
von geschlossenen National-Ökonomien hin zu
einer großen Geo-Ökonomie schon weit fortge-
schritten.
Großunternehmen wie z. B. Siemens, Bayer
oder Daimler Benz als deutsche Unternehmen
zu bezeichnen, ist heute nur noch bedingt und
allenfalls im Hinblick darauf berechtigt, daß die
Firmenzentralen noch in Deutschland ihren Sitz
haben. Die Wertschöpfung, also das, was ein
Unternehmen eigentlich ausmacht, geschieht

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