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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Nr. 2
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Selmaier, Alfred: Bericht über den Kongreß des Deutschen Altphilologenverbandes vom 9.-13. April 1996 in Jena
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0077

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lern und der wuchtigen Stadtkirche mit ihren
prächtigen Portalen; mit den spätgotischen Bür-
gerhäusern und den einladenden Traditions-
wirtshäusem der Studenten, und dazwischen
immer wieder die klaren Linien der Universi-
tätsbauten.
Ein erfolgreiches Bemühen wird allerorten
spürbar: die eigene Vergangenheit, die Her-
kunft, in der Gegenwart wieder sichtbar und
lebendig werden zu lassen für eine lebenswerte
Zukunft.
1. Zukunft braucht Herkunft
1.1 Gestaltung und Bewältigung seiner Zukunft
lassen den Menschen zu allen Zeiten Visionen
entwickeln, um so mehr, als ihn existentielle
Probleme bedrohen. Dabei sind Intelligenz,
Kompetenz und Autorität verläßliche Instru-
mente, die Impulse aussenden und den Fort-
schritt steuern, um der Anforderungen Herr zu
werden.
In seinem einführenden Vortrag zum Kongreß-
thema ,Zukunft braucht Herkunft' (Bildungs-
erwartungen an die Alten Sprachen) legte der
Vorsitzende des Deutschen Altphilologenver-
bandes, Prof. Dr. FRIEDRICH MAIER (Berlin),
vor über achthundert Kongreßteilnehmern über-
zeugend dar, daß die Antike als vielschichtiges
Modell zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben
auch und gerade heute wieder Beachtung findet.
So erkennt etwa Hariolf Grupp in seinem
, Delphi-Report - Innovationen für unsere Zu-
kunft' in dem bewährten Muster der Vergan-
genheit eine tragfähige Orientierungsbasis für
Zukunft und Fortschritt in einer globalen Di-
mension.
Die Aufgabe, welche dabei der Bildungsinstitu-
tion Schule zufällt, sieht Maier in der Vermitt-
lung von Wissen und im flexiblen und kreativen
Umgang mit ihm, um durch dessen Projektion
künftigen Aufgaben sich erfolgreich zu stellen,
bei aller Riskantheit menschlichen Wissens. In
diesem Prozeß haben sich seit Francis Bacon
, zwei Kulturen' entwickelt:
- die Naturwissenschaften (praxisnah, zu-
kunftsorientiert) und

- die Geisteswissenschaften (vergangenheits-
bezogen, scheinbar nutzlos und ineffektiv).
Nach Maiers Überzeugung beginnt sich der Riß,
der zwischen beiden über Jahrhunderte klaffte,
in jüngster Zeit wieder zu schließen. Denn ge-
rade die Naturwissenschaften deuten eine Rück-
kehr des Geistes zur Natur an, indem sie das
Wesen des Menschen in der Entwicklung seines
Bewußtseins und Denkvermögens erkennen, das
von den Aspekten Intentionalität, Sprache, Lo-
gik, Wertempfinden und Sinnhaftigkeit geprägt
sei. Diese naturwissenschaftliche Erkenntnis des
Menschen als eines Geistwesens sucht - wie der
Biologe und Nobelpreisträger Gerald M. Edel-
man fordert - nach einer Ergänzung in den Gei-
steswissenschaften, in der Psychologie, Lin-
guistik, Philosophie und Theologie.
Aber bereits im 17. Jahrhundert sah Pascal in
dem über sich selbst nachdenkenden Menschen
das große Wunder der Natur, ebenso erkennt
der Psalmist schon die herausgehobene Stellung
des Menschen in der Natur. Die klassische For-
mulierung dieser Sonderstellung findet sich im
Chorlied der .Antigone' des Sophokles, wo
nicht nur die Zivilisationsfähigkeit des Men-
schen aufleuchtet, sondern seine alles überra-
gende Stellung und Selbsteinschätzung. Dies
wird besonders augenscheinlich in der Ambiva-
lenz des griechischen Wortes äetvöv beim Tra-
giker, das in späteren unterschiedlichen Deu-
tungen sowohl enthusiastisch positive (Erich
Fromm) wie auch abgründig negative Nuancie-
rungen (Hans Jonas) erhält. Letzterer erkennt in
der Geistbefähigung des Menschen und in sei-
nem Selbstwerdungsprozeß den Ausgangspunkt
für den Begriff der Verantwortlichkeit für die
Zukunft. So fordert das Problem der Bewahrung
der Natur in der Schöpfung nach Jonas eine
metaphysisch begründete Antwort, reicht also
weit über die Naturwissenschaften hinaus. Zu-
kunftsverantwortung und -ethik speisen sich
auch durch die Auseinandersetzung mit tradier-
ten Mustern und Modellen. Nach den Worten
Maiers kommen sich Naturwissenschaft
(Edelman) und Geisteswissenschaft (Jonas) sehr
nahe, wo sie Grenzen markieren. Physik und
Metaphysik, Fakten und Ideen, Materie und

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