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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 39.1996

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Nr. 2
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Selmaier, Alfred: Bericht über den Kongreß des Deutschen Altphilologenverbandes vom 9.-13. April 1996 in Jena
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https://doi.org/10.11588/diglit.33062#0078

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Bewußtsein sind eines, nämlich Ausformungen
der Natur. Daraus ist zu folgern, daß der Prozeß
der Selbstwerdung des Menschen der Unterstüt-
zung von seiten des Fortschritts wie auch der
Tradition bedarf: Zukunft braucht Flerkunft -
eine essentiell-individuelle Wahrheit (Erfahrun-
gen von geschichtlich-kulturellen Situationen)
und auch eine existentiell-universale Wahrheit
(ethische Einsichten in die Vergangenheit für
die Zukunft und die Erhaltung der Art).
Für das Gymnasium jenseits der Jahrtau-
sendwende bedeuten diese Feststellungen, daß
angesichts unvorstellbarer Möglichkeiten der
Multimedia - trotzdem oder gerade deshalb -
das Programm einer vertieften allgemeinen Bil-
dung einen entscheidenden Stellenwert einneh-
men wird. Dabei haben geisteswissenschaftliche
wie auch naturwissenschaftliche Fächer den
gleichen Rang, auf der Suche nach neuen Har-
monien. Alle Kraft muß eingesetzt werden, die
anstehenden Existenzprobleme, etwa die Ver-
söhnung von Ökonomie und Ökologie, erfolg-
reich anzugehen. Somit steht auch das Gymna-
sium in der Verantwortung, es muß eine Schule
der Verantwortung werden. Alle geisteswissen-
schaftlichen Fächer (Fächer der Herkunft, Ba-
sisfächer, Wurzelfächer) haben grundlegende
Bedeutung in der gymnasialen Bildungstheorie.
Moderner und realistischer als Francis Bacon,
der die Geistes Wissenschaften als , museale
Disziplinen' abqualifizierte, erscheint nach
Maiers Überzeugung das tiefsinnige Wort des
Euripides: „Wer in seiner Jugend die Musen
vernachlässigt, der hat die vergangene Zeit
verloren und ist für die Zukunft tot."
1.2 .Zukunft braucht Herkunft' - dieses Motto
gewinnt, so formulierte es der Ministerpräsident
des Freistaates Thüringen, Dr. BERNHARD
VOGEL, in seinem Grußwort an die Kongreß-
teilnehmer gerade für die neuen Bundesländer
eine ganz besondere Bedeutung. Denn weithin
herrscht die Überzeugung, daß nach der politi-
schen Wende die Zukunft einer Neuorientierung
bedürfe, nicht nur einer Aufarbeitung der Ver-
gangenheit. Vogel sieht in dem für den Kongreß
in Jena gewählten Motto die Spannung zwi-

schen alt und neu, einst und jetzt, den Aufbruch
zu neuen Ufern, der sich wieder an Werten ori-
entiert.
Der Ministerpräsident erkennt im humanisti-
schen Menschenbild ein Modell überzeitlich
gültiger Wertvorstellungen. In diesem Zusam-
menhang erinnert er an die Rückkehr zu den
gemeinsamen Wurzeln der kulturbildenden
Kraft des Abendlandes, an dessen Anfang
Theorie und Praxis stehen (Heisenberg). Nach
Vogels Überzeugung sind die Altphilologen
, Brückenbauer'.
Eindrucksvolle Zahlen belegen die neuen An-
strengungen und den gelingenden Aufbruch zu
den intendierten Zielen in Thüringen: 12.000
Schüler lernen wieder Latein, in der Stadt Jena
allein an zehn Gymnasien; 200 Teilnehmer von
28 thüringischen Gymnasien an einem alt-
sprachlichen Wettbewerb. Vogel schließt dar-
aus, daß die Bedeutung der Humanitas in sei-
nem Bundesland nach zwei Diktaturen sehr
bewußt erkannt worden ist.
Unter dem Motto gf exemplo' hielt der
Ministerpräsident große Teile seines Grußwor-
tes zum Erstaunen der Fachleute in lateinischer
Sprache. Er schloß mit einem Wort Senecas,
daß nämlich Schwierigkeiten oft nur daher
rührten, weil Mut fehle, Aufgaben energisch
anzugehen. Allen, die es hören wollten, ins
Stammbuch geschrieben!
1.3 Humanismus gilt als geistesgeschichtliche
Bewegung mit dem Ideal edler, allseitig aus-
gebildeter Menschlichkeit. In der historischen
Realität bekommt der Begriff recht unter-
schiedliche Ausformungen: in der römischen
Kultur, in der Renaissance, im Humanitätsideal
der deutschen Klassik, schließlich auch bei
Marx und Sartre.
Der Berliner Journalist Dr. JÜRGEN BUSCHE
griff in seinem kritischen Vortrag „Klassische
Philologie nach dem Ende des ,Silbernen' Hu-
manismus" eine Epoche deutscher Philologen
auf und an, die in den Jahren 1910 - 1970 von
Werner Jaeger bis Wolfgang Schadewaldt
reicht, um die politische Haltung großer deut-

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