München, 4. April 1910.
Beitage zur „Werkstatt der Kunst" (E. A. Seemann, Leipzig).
Erscheint i4tägig unter Leitung von Maier Ernst Berger.
YLJahrg. Nr. 14.
Inhait: Anatomische Misceiten II: Das Wachstum des menschlichen Schädeis. Von A. Friedei. (Schiuss.) —
Ein maitechnischer Brief Aifred Retheis. Von Paui Gerhardt. — Zum Kapitei Temperamaimittei.
— Zur ,,Fiora"-Frage. Von G. Bakenhus. — Linoieum ats Ueberzug der Reissbretter. — Glyzerin als
Schleifmittel von Messern oder sonstigen Instrumenten.
Anatomische Miscellen H: Das Wachstum des menschlichen Schädels- ). (Schiuss)
Beim Erwachsenen gleicht das Feld der Gla-
bella, durch den Augenbrauenwulst begrenzt,
einem Dreieck, dessen nach unten gerichtete
Spitze zwischen den beiden Wuisten iiegt; beim
Kinde dagegen fehlen die Augenbrauenwuiste,
wir linden aber die beiden kräftigen Stirnhöcker
vor: das Dreieck steht auf seiner Basis, die
Spitze sieht nach oben und liegt zwischen beiden
Stirnhöckern.
Auch für die Breite der Stirn ist die Aus-
bildung der Stirnhöcker von Bedeutung, jedoch
ist diese vorteilhafter in Verbindung mit dem
Jochbein zu betrachten, von dem eine obere Ecke
an das Stirnbein geht und mit dem äusseren
Augenhöhlenrand die Seitenkante der Stirn bilden
hilft. Diese Seitenkante trennt die Stirn von der
Schläfengrube, die ihrerseits zu den Stellen des
Körpers gehört, an denen sich Fett mit Vorliebe
ansammelt; — denn in gleicher Weise wie die
Muskulatur ist das Fett für die Körperoberdäche
von Bedeutung. — Hier schwindet das Fett mit
zuerst, wenn im Körperhaushalt mehr verbraucht
als eingenommen wird, wenigstens wird es an
dieser Stelle auch zuerst sichtbar durch Tiefer-
werden der Grube, und ein Gradmesser wieder
dafür sind jene feinen geschlängelten Blutgelasse,
die dann stärker oder schwächer hervortreten.
So dürften parallel laufen: tiefere Schläfengrube,
schärfere Seitenkante, deutlichere Gefässschlänge-
*) Ein erster Artikel desseiben Autors: „Die Asym-
metrie im Bau des menschiichen Körpers" ist abge-
druckt in Nr. 7 dieses Jahrganges, worauf hier nach-
trägiich hingewiesen wird. Herr Friede] hat uns die
Fortsetzung der jeden Kiinstier gewiss interessierenden
„Anatomischen Misceiien" in Aussicht gesteht, wofür
ihm auch an dieser Steile besonderer Dank gesagt wird.
Die Schriftleitung.
lung; herausgegriffen aus der Gesetzmässigkeit
eines Kopfes; denn es hängt alles, auch die ent-
ferntesten Teile, voneinander ab.
Zum Schädel zurück, so erscheint die so be-
grenzte Stirn beim Kinde oben breiter als unten,
beim Erwachsenen umgekehrt und wieder gegen
das IO. Jahr sehen wir in der unteren Hälfte die
beginnende Verbreiterung aufdämmern, während
im 5. Jahr oben und unten gleiche Breite
zeigen.
Obwohl durch die Entwicklung der Augen-
brauen für das Gesicht selbst weniger von Be-
deutung, darf man doch die Betrachtung der
Stirn am Schädel nicht abschliessen, ohne der
Veränderungen am oberen Augenhöhlenrand zu
gedenken. Beim Neugeborenen gleichmässig ge-
wölbt, tritt im Wachstumsverlauf im inneren
Drittel wie am Aussenrand je eine Knickung der
Linie auf, so dass am Ende der obere Rand aus
drei sich im stumpfen Winkel treffenden Linien
besteht: auch Schädel kann man porträtieren.
Die kurz ansteigende Linie des inneren Drittels,
die langabfallende der beiden äusseren und von
der oberen äusseren Ecke gerade hinunterziehend
die dritte Linie. Diese äussere obere Ecke ist
am lebenden Kopf noch am meisten von Be-
deutung, da die oben erwähnte Stirnseitenkante
an der ihr entsprechenden Stelle eine Aus-
biegung erfährt.
Da der grösste Teil des Stirnbeines mit einer
Weichteilschicht von nur ß—4 mm bedeckt ist,
so bietet jeder Kopf ohne Ausnahme reiche Ge-
legenheit zur Beobachtung der knöchernen Unter-
lage, aus der möglichst viel zur Charakteri-
stik herauszuholen diese Betrachtungen anregen
möchten. A. Friedei.