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Münchner kunsttechnische Blätter
Nr. [6.
längerung des aufsteigenden und des horizontalen
Kieferastes stattfinden, so muss in der Mitte, also
an der Vereinigungsstelle des horizontalen und
vertikalen Astes, der erforderliche Zuschuss ge-
wissermassen eingeschoben werden. Diese Ver-
einigungsstelle, der Unterkieferwinkel, wird daher
immer mehr nach unten und hinten vorrücken.
Infolge dieses Herausrückens der unteren hin-
teren Ecke erhält — namentlich deutlich in der
Prohlansicht — die untere Kante des Unterkiefers
den so charakteristischen, nach unten offenen
Knick, der noch stärker am Lebenden hervortritt,
bei dem der Kaumuskel um das untere hintere
Ende herumgreift und die Kante gewissermassen
polstert.
Auch die vordere Proñllinie, unterer Nasen-
ansatz — Kinn, wird in Ober- wie Unterkiefer
nochmals geknickt, indem die Schneidezähne zu-
sammenbleiben müssen, die Kiefer aber selbst
nach vorn weiterwachsen; so entsteht an den
Wurzeln der oberen Zähne ein noch deutlicher,
an denen der unteren je ein nach vorn offener
Winkel, und als Folge des unteren resultiert der
für die hohe Stufe einer Rasse so bedeutungs-
volle Kinnvorsprung. Obwohl im Gebiete des
Unter- wie Oberkiefers die Weichteile in einer
Dicke von durchschnittlich I cm das Skelett über-
lagern, — der lose mit dem übrigen Gesichts-
schädel verbundene Unterkiefer bedarf zur Be-
festigung einer so starken Muskelschlinge —
treten diese Ecken und Winkel am Skelett doch
auch an der Oberfläche zutage, ja sie bedingen
das Feste, Unveränderliche im Gesichtsausdruck.
Das Fett mag schwinden, der Muskel mag ver-
kümmern, die Haut mag welken, der Knochen
aber bleibt.
Nur in einem, auch für die bildliche Dar-
stellung wichtigen Falle bleibt auch der Knochen
nicht bis ans Ende bestehen. Beim Greise, bei
dem die Zähne schwinden und die Zahnhöhlen
veröden, wird aus der reich gegliederten Proñl-
linie Nasenansatz — Kinn der eine grosse nach
vorn offene Winkel: die Nase hält mit dem Kinn
Zwiesprach, wie Shakespeare sich bezeichnend
ausdrückt. A. Friedei.
Methoden der Farbenbenennung*).
Von Wilhelm Waetzoldt.
Farbenempñndungs- und Farbenbenennungsver-
mögen sind streng zu unterscheiden. Das Sehen und
Unterscheiden von Farben ist zwar im allgemeinen
Vorbedingung für ihr Benennen, aber das Benennen-
*) Dieser Aufsatz bildet den gekürzten und umge-
arbeiteten Inhalt eines unter demTitel: „Vorschläge
zur Farbenterminologie" auf dem IX. Internatio-
nalen Kunsthistorischen Kongresse in München, Sep-
tember ¡909 gehaltenen Vortrages. Ueber „das theo-
retische und praktische Problem der Farben-
benennung" habe ich ausführlich in der „Zeitschrift
für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft"
(IV. Band, 3. Heft) gehandelt. W. W.
können gibt keinen Gradmesser ab für die Unter-
scheidungsfähigkeit. Es darf daher weder vom Vor-
handensein eines normalen Wortschatzes für Farben
auf ein normales Empñndungs- und Unterscheidungs-
vermögen geschlossen werden, noch lässt sich aus
dem Mangel einer Farbenbenennung das Fehlen der be-
treffenden Empñndungsqualitat folgern. Das Benennen
von Farben geht nur soweit dem Kennen von Farben
parallel, als es der jeweilige praktische Zweck der Ver-
ständigung erfordert.
Wenn sich nun aber im Anschluss an die Eigenart des
Farbenerlebnisses sprachliche Bezeichnungen ausbilden,
haben wir es keineswegs mit einer getreuen Wieder-
gabe des psychologischen Tatbestandes zu tun. Der
Wirklichkeitsbesitz, den wir in den Sinneserlebnissen
haben, deckt sich nicht mit jenem, den wir aus ihren
sprachlichen Bezeichnungen gewinnen. Die Sprache be-
zeichnet weder das für die Empñndung Einfache von
vornherein einfach, noch schafft sie stets da differen-
zierte Gebilde, wo sich Unterschiede in der Empßn-
dung vorfinden. Diese Unterschiede werden bald ver-
wischt, bald übertrieben; die Sprache wählt aus dem
Reichtum des Erlebten das aus und betont das, was
für den Zweck der Mitteilung in Betracht kommt. Sie
folgt also im Schaffen von Farbennamen ebensowenig
psychologischen als rationellen, vielmehr ausschliess-
lich praktischen Beweggründen.
DerUmfang des Farbenvokabulariums einerSprache
hängt ab von dem grösseren oder geringeren Mit-
teilungsbedürfnis, farbigen Eindrücken gegenüber. Wie
sich darin die verschiedenen Nationen unterscheiden,
so verfügen auch innerhalb einer und derselben Sprache
verschiedene Lebenskreise über eine reichere oder
ärmere Farbenterminologie. Die Umgangssprache be-
gnügt sich mit einem verhältnismässig sehr kleinen
Schatz an Farbenbenennungen. Farbenindustrie und
Naturwissenschaften haben dagegen eine umfangreichere
Farbennomenklatur ausgebildet, da sie sprachlicher
Bezeichnungen für differenzierte Farbenerlebnisse be-
dürfen. Auch die Kunstgeschichte — soweit sie eine
beschreibende Wissenschaft ist — hat eine Fülle ge-
nauer Farbenbenennungen nötig. Es fragt sich also:
nach welcher Methode kann sie eine für ihre Zwecke
brauchbare Farbenterminologie ausbilden?
Die AHtagssprache hilft sich da, wo ihr ein beson-
derer Farbenname fehlt, mit der vergleichenden Bezug-
nahme auf Naturobjekte, die ähnlich gefärbt sind wie
das, was sie benennen will. Die Industrien leiten ihre
Farbennamen gern von Farbstoffen oder von deren
Herstellungsort ab oder wählen rein willkürliche Be-
zeichnungen. In der Optik werden die Farben nach
der Stelle deñniert, die sie im Spektrum einnehmen,
also durch Angabe der Frauenhofers Linien ent-
sprechenden Wellenlängen, bezw. Wellenbezirke be-
nannt. Nebenher gehen eine Reihe von Versuchen
numerischer Farbenbenennungen. Und zwar weist
eine solche zahlenmässige Bezeichnung entweder nur
auf den einer zu benennenden Farbe entsprechenden
Farbenton innerhalb einer Farbentafel hin oder die
betr. Zahl ist der numerische Ausdruck für die
Mischungsverhältnisse einer Farbe. Im letzten Falle
handelt es sich also darum, in der Farbenbenennung
gleichzeitig eine Farbenanalyse zu geben.
Drei Forderungen wird eine für kunstgeschicht-
liche Zwecke geeignete Farbenterminologie zu erfüllen
haben: sie muss erstens möglichst eindeutige Benen-
nungen enthalten, d. h. Namen, die entweder ganz
genaue Farbenvorstellungen auslösen oder, besser noch,
von jedem in die unmittelbare Anschauung der be-
nannten Farbe mit Hilfe eines Farbenapparates zu
übersetzen sind. Eine Farbenterminologie der Kunst-
wissenschaft muss ferner international verständlich
sein, drittens muss sie dem Umfang der malerischen
Palette möglichst nahekommen.
Münchner kunsttechnische Blätter
Nr. [6.
längerung des aufsteigenden und des horizontalen
Kieferastes stattfinden, so muss in der Mitte, also
an der Vereinigungsstelle des horizontalen und
vertikalen Astes, der erforderliche Zuschuss ge-
wissermassen eingeschoben werden. Diese Ver-
einigungsstelle, der Unterkieferwinkel, wird daher
immer mehr nach unten und hinten vorrücken.
Infolge dieses Herausrückens der unteren hin-
teren Ecke erhält — namentlich deutlich in der
Prohlansicht — die untere Kante des Unterkiefers
den so charakteristischen, nach unten offenen
Knick, der noch stärker am Lebenden hervortritt,
bei dem der Kaumuskel um das untere hintere
Ende herumgreift und die Kante gewissermassen
polstert.
Auch die vordere Proñllinie, unterer Nasen-
ansatz — Kinn, wird in Ober- wie Unterkiefer
nochmals geknickt, indem die Schneidezähne zu-
sammenbleiben müssen, die Kiefer aber selbst
nach vorn weiterwachsen; so entsteht an den
Wurzeln der oberen Zähne ein noch deutlicher,
an denen der unteren je ein nach vorn offener
Winkel, und als Folge des unteren resultiert der
für die hohe Stufe einer Rasse so bedeutungs-
volle Kinnvorsprung. Obwohl im Gebiete des
Unter- wie Oberkiefers die Weichteile in einer
Dicke von durchschnittlich I cm das Skelett über-
lagern, — der lose mit dem übrigen Gesichts-
schädel verbundene Unterkiefer bedarf zur Be-
festigung einer so starken Muskelschlinge —
treten diese Ecken und Winkel am Skelett doch
auch an der Oberfläche zutage, ja sie bedingen
das Feste, Unveränderliche im Gesichtsausdruck.
Das Fett mag schwinden, der Muskel mag ver-
kümmern, die Haut mag welken, der Knochen
aber bleibt.
Nur in einem, auch für die bildliche Dar-
stellung wichtigen Falle bleibt auch der Knochen
nicht bis ans Ende bestehen. Beim Greise, bei
dem die Zähne schwinden und die Zahnhöhlen
veröden, wird aus der reich gegliederten Proñl-
linie Nasenansatz — Kinn der eine grosse nach
vorn offene Winkel: die Nase hält mit dem Kinn
Zwiesprach, wie Shakespeare sich bezeichnend
ausdrückt. A. Friedei.
Methoden der Farbenbenennung*).
Von Wilhelm Waetzoldt.
Farbenempñndungs- und Farbenbenennungsver-
mögen sind streng zu unterscheiden. Das Sehen und
Unterscheiden von Farben ist zwar im allgemeinen
Vorbedingung für ihr Benennen, aber das Benennen-
*) Dieser Aufsatz bildet den gekürzten und umge-
arbeiteten Inhalt eines unter demTitel: „Vorschläge
zur Farbenterminologie" auf dem IX. Internatio-
nalen Kunsthistorischen Kongresse in München, Sep-
tember ¡909 gehaltenen Vortrages. Ueber „das theo-
retische und praktische Problem der Farben-
benennung" habe ich ausführlich in der „Zeitschrift
für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft"
(IV. Band, 3. Heft) gehandelt. W. W.
können gibt keinen Gradmesser ab für die Unter-
scheidungsfähigkeit. Es darf daher weder vom Vor-
handensein eines normalen Wortschatzes für Farben
auf ein normales Empñndungs- und Unterscheidungs-
vermögen geschlossen werden, noch lässt sich aus
dem Mangel einer Farbenbenennung das Fehlen der be-
treffenden Empñndungsqualitat folgern. Das Benennen
von Farben geht nur soweit dem Kennen von Farben
parallel, als es der jeweilige praktische Zweck der Ver-
ständigung erfordert.
Wenn sich nun aber im Anschluss an die Eigenart des
Farbenerlebnisses sprachliche Bezeichnungen ausbilden,
haben wir es keineswegs mit einer getreuen Wieder-
gabe des psychologischen Tatbestandes zu tun. Der
Wirklichkeitsbesitz, den wir in den Sinneserlebnissen
haben, deckt sich nicht mit jenem, den wir aus ihren
sprachlichen Bezeichnungen gewinnen. Die Sprache be-
zeichnet weder das für die Empñndung Einfache von
vornherein einfach, noch schafft sie stets da differen-
zierte Gebilde, wo sich Unterschiede in der Empßn-
dung vorfinden. Diese Unterschiede werden bald ver-
wischt, bald übertrieben; die Sprache wählt aus dem
Reichtum des Erlebten das aus und betont das, was
für den Zweck der Mitteilung in Betracht kommt. Sie
folgt also im Schaffen von Farbennamen ebensowenig
psychologischen als rationellen, vielmehr ausschliess-
lich praktischen Beweggründen.
DerUmfang des Farbenvokabulariums einerSprache
hängt ab von dem grösseren oder geringeren Mit-
teilungsbedürfnis, farbigen Eindrücken gegenüber. Wie
sich darin die verschiedenen Nationen unterscheiden,
so verfügen auch innerhalb einer und derselben Sprache
verschiedene Lebenskreise über eine reichere oder
ärmere Farbenterminologie. Die Umgangssprache be-
gnügt sich mit einem verhältnismässig sehr kleinen
Schatz an Farbenbenennungen. Farbenindustrie und
Naturwissenschaften haben dagegen eine umfangreichere
Farbennomenklatur ausgebildet, da sie sprachlicher
Bezeichnungen für differenzierte Farbenerlebnisse be-
dürfen. Auch die Kunstgeschichte — soweit sie eine
beschreibende Wissenschaft ist — hat eine Fülle ge-
nauer Farbenbenennungen nötig. Es fragt sich also:
nach welcher Methode kann sie eine für ihre Zwecke
brauchbare Farbenterminologie ausbilden?
Die AHtagssprache hilft sich da, wo ihr ein beson-
derer Farbenname fehlt, mit der vergleichenden Bezug-
nahme auf Naturobjekte, die ähnlich gefärbt sind wie
das, was sie benennen will. Die Industrien leiten ihre
Farbennamen gern von Farbstoffen oder von deren
Herstellungsort ab oder wählen rein willkürliche Be-
zeichnungen. In der Optik werden die Farben nach
der Stelle deñniert, die sie im Spektrum einnehmen,
also durch Angabe der Frauenhofers Linien ent-
sprechenden Wellenlängen, bezw. Wellenbezirke be-
nannt. Nebenher gehen eine Reihe von Versuchen
numerischer Farbenbenennungen. Und zwar weist
eine solche zahlenmässige Bezeichnung entweder nur
auf den einer zu benennenden Farbe entsprechenden
Farbenton innerhalb einer Farbentafel hin oder die
betr. Zahl ist der numerische Ausdruck für die
Mischungsverhältnisse einer Farbe. Im letzten Falle
handelt es sich also darum, in der Farbenbenennung
gleichzeitig eine Farbenanalyse zu geben.
Drei Forderungen wird eine für kunstgeschicht-
liche Zwecke geeignete Farbenterminologie zu erfüllen
haben: sie muss erstens möglichst eindeutige Benen-
nungen enthalten, d. h. Namen, die entweder ganz
genaue Farbenvorstellungen auslösen oder, besser noch,
von jedem in die unmittelbare Anschauung der be-
nannten Farbe mit Hilfe eines Farbenapparates zu
übersetzen sind. Eine Farbenterminologie der Kunst-
wissenschaft muss ferner international verständlich
sein, drittens muss sie dem Umfang der malerischen
Palette möglichst nahekommen.