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Münchner kunsttechnische Blätter.
Kr 13.
Gesichtsschädei, wie bekannt, bedeutend an Masse
übertrifft. Während der Gesichtsschädei beim
Neugeborenen zum Hirnschädei sich wie 1 : 8
verhält, beträgt das gleiche Verhältnis beim Er-
wachsenen 1:2 — eine Linie vom oberen Augen-
höhienrand zur Ohröffnung trennt in der Seiten-
ansicht Hirn- vom Gesichtsschädei. —
Die Knochen müssen daher im einzelnen ein
sehr verschieden schneiies Wachstum zeigen, das
im folgenden behandelt werden soll, hat doch
jedes Alter seine ganz bestimmt charakterisierte
Schädelform, die den Altersveränderungen am
übrigen Körper natürlich entsprechen muss. Zum
Beispiel zu den im Pubertätsalter bekanntlich
geradezu abnorm grossen Füssen und Händen
gehört nicht nur ein ganz bestimmtes Verhältnis
von Hirn- zu Gesichtsschädei, sondern auch ein
ganz bestimmtes Schädelrund. In dieser Richtung
wird oft gefehlt. —
Beim Stirnbein beginnend, denken wir uns als
Orientierungslinie in der Profilansicht eine auf
dem oberen Augenhöhlenrand errichtete Senkrechte.
Am lebenden Kopfe ist dabei zu beachten, dass
die Weichteile des Augenhöhlenrandes über ein-
halbmal so dick als die über der oberen Stirn-
hälfte gelegenen Weichteile sind. Der lebende
Kopf zeigt daher an dieser Stelle noch deutlicher
die schon für den Schädel charakteristischen Ver-
hältnisse.
Beim Kinde sehen wir nun den oberen Teil
des Stirnbeines über diese Senkrechte vortreten;
mit fortschreitendem Wachstum tritt es immer
mehr zurück, erreicht ungefähr ums IO. Jahr die
Senkrechte, hält sich auf dieser noch im Jünglings-
alter -— der weibliche Schädel bleibt auf dieser
Stufe stehen -— und tritt beim erwachsenen
Manne so weit hinter die Senkrechte, als es beim
Kinde davorstand. Den umgekehrten Weg
macht der untere Rand des Stirnbeines, d. h. der
obere Augenhöhlenrand; auch hier bildet das
IO. Lebensjahr eine Grenze, von der an man ein
Ueberschreiten der Senkrechten nach vorn kon-
statieren kann. Charakteristisch wird das aber
erst beim erwachsenen Manne, bei dem schon
der nackte Schädel einen deutlichen Augenbrauen-
wulst erkennen lässt.
Mit dem Zurückweichen des oberen Teiles
des Stirnbeines — man spricht mit Recht von
einer „fliehenden Stirn" — und mit dem Vor-
rücken des unteren Teiles ändert sich natürlich
auch die Wölbung des ganzen Knochens, die am
schärfsten in den Stirnhöckern zum Ausdruck
kommt. Wem wäre im frühen Kindesalter ihre
ausserordentlich starke Entwicklung noch nicht
aufgefallen, wo sie in der Ansicht von oben den
Schädel geradezu mit abgerundeten Ecken er-
scheinen lassen? Sie stehen hier senkrecht über
den äusseren Rändern der Augenhöhlen, rücken
um das IO. Jahr über das äussere Dritteil, beim
Jüngling und beim Weibe über die Mitte, beim
Erwachsenen sogar etwas nach innen; dement-
sprechend werden sie immer flacher. Ihre Lage
ist äusserst charakteristisch, ebenso wie ihre ver-
schieden starke Ausbildung. Doch darf man da
nicht übersehen, dass sie bei den aus ärmeren
Volkskreisen sich rekrutierenden Modellen infolge
überstandener Rachitis meist übertrieben stark
sind, hier also für das Alter nicht charak-
teristisch sind.
Die stärkere Ausbildung des Augenbrauen-
wulstes einerseits, die Abflachung der Stirnhöcker
andererseits verändert das ganze Stirnrelief
während des Lebens total und gewährt in ihrer
Anordnung bei verschiedenen Menschen — man
denke noch an die Abweichungen der rechten
von der linken Seite! — einen Formenreichtum,
der unerschöpflich ist. Man beachte da die Form
der Glabella, der Stirnglatze, des über der Nasen-
wurzel gelegenen Feldes. A. Friedei.
(Schluss folgt.)
Eine neue Technik iiir Monumental-
maierei.
Von Prof. Wilhelm Ostwald.
Seitdem die Kulturmenschheit Steinkohlen brennt
statt des in früheren Jahrtausenden ausschliesslich für
Heizzwecke benutzten Holzes, das heisst seit kaum
einem Jahrhundert (in England nicht unerheblich
länger), sind die Lebensbedingungen aller Werke der
bildenden Kunst, insbesondere der monumentalen, von
Grund aus andere geworden. Ich habe bereits in
anderem Zusammenhang auf diese Tatsache hinge-
wiesen, bin aber nicht gewahr geworden, dass man
sie in ihrer grundlegenden Wichtigkeit an massgeben-
der Stelle begriffen hätte. Und doch handelt es sich
um nichts weniger, als dass alle Erfahrungen der
Jahrtausende über die Haltbarkeit der Mate-
rialien, aus denen die Kunstwerke bestehen,
gegenwärtig vollkommen wertlos und unmass-
geblich geworden sind, weil sie unter Bedingungen
gesammelt wurden, die gegenwärtig nicht mehr be-
stehen und durch wesentlich andere ersetzt sind.
Bei der Verbrennung des Holzes und ähnlicher
Stoffe entsteht nämlich nur Wasser und Kohlendioxyd
(gewöhnlich Kohlensäure genannt). Es sind die nor-
malen Bestandteile der atmosphärischen Luft in der
Stadt wie auf dem Lande, da sie auch durch die
natürlichen Zersetzungsvorgänge, denen die Stoffe der
abgestorbenen Pflanzen alljährlich unterliegen, sich der
Atmosphäre mitteilen. Bei der Verbrennung der Stein-
und Braunkohle entstehen diese beiden Stoffe gleich-
falls. Neben ihnen bildet sich aber aus dem Schwefel-
gehalt dieser fossilen Brennstoffe Schwefeldioxyd
(schweflige Säure), das sich den Abgasen beimischt
und als leicht in Wasser lösliches Gas sich im Regen,
Tau und Nebel konzentriert. Durch den Sauerstoff
der Luft geht dieser Stoff sehr bald in Schwefel-
säure über, die ihre ätzenden und zerstörenden
Wirkungen überall ausübt, wo sich die atmosphärischen
Wässer sammeln. Dieser Vorgang findet um so stärker
statt, je mehr Kohle für eine gegebene Zeit und Fläche
verbrannt wird; er ist also in den Grossstädten sehr
viel stärker entwickelt als in den kleinen und fehlt
praktisch auf dem flachen Land. In England, wo die
billige Kohle und der nationale Kamin zu einer be-
Münchner kunsttechnische Blätter.
Kr 13.
Gesichtsschädei, wie bekannt, bedeutend an Masse
übertrifft. Während der Gesichtsschädei beim
Neugeborenen zum Hirnschädei sich wie 1 : 8
verhält, beträgt das gleiche Verhältnis beim Er-
wachsenen 1:2 — eine Linie vom oberen Augen-
höhienrand zur Ohröffnung trennt in der Seiten-
ansicht Hirn- vom Gesichtsschädei. —
Die Knochen müssen daher im einzelnen ein
sehr verschieden schneiies Wachstum zeigen, das
im folgenden behandelt werden soll, hat doch
jedes Alter seine ganz bestimmt charakterisierte
Schädelform, die den Altersveränderungen am
übrigen Körper natürlich entsprechen muss. Zum
Beispiel zu den im Pubertätsalter bekanntlich
geradezu abnorm grossen Füssen und Händen
gehört nicht nur ein ganz bestimmtes Verhältnis
von Hirn- zu Gesichtsschädei, sondern auch ein
ganz bestimmtes Schädelrund. In dieser Richtung
wird oft gefehlt. —
Beim Stirnbein beginnend, denken wir uns als
Orientierungslinie in der Profilansicht eine auf
dem oberen Augenhöhlenrand errichtete Senkrechte.
Am lebenden Kopfe ist dabei zu beachten, dass
die Weichteile des Augenhöhlenrandes über ein-
halbmal so dick als die über der oberen Stirn-
hälfte gelegenen Weichteile sind. Der lebende
Kopf zeigt daher an dieser Stelle noch deutlicher
die schon für den Schädel charakteristischen Ver-
hältnisse.
Beim Kinde sehen wir nun den oberen Teil
des Stirnbeines über diese Senkrechte vortreten;
mit fortschreitendem Wachstum tritt es immer
mehr zurück, erreicht ungefähr ums IO. Jahr die
Senkrechte, hält sich auf dieser noch im Jünglings-
alter -— der weibliche Schädel bleibt auf dieser
Stufe stehen -— und tritt beim erwachsenen
Manne so weit hinter die Senkrechte, als es beim
Kinde davorstand. Den umgekehrten Weg
macht der untere Rand des Stirnbeines, d. h. der
obere Augenhöhlenrand; auch hier bildet das
IO. Lebensjahr eine Grenze, von der an man ein
Ueberschreiten der Senkrechten nach vorn kon-
statieren kann. Charakteristisch wird das aber
erst beim erwachsenen Manne, bei dem schon
der nackte Schädel einen deutlichen Augenbrauen-
wulst erkennen lässt.
Mit dem Zurückweichen des oberen Teiles
des Stirnbeines — man spricht mit Recht von
einer „fliehenden Stirn" — und mit dem Vor-
rücken des unteren Teiles ändert sich natürlich
auch die Wölbung des ganzen Knochens, die am
schärfsten in den Stirnhöckern zum Ausdruck
kommt. Wem wäre im frühen Kindesalter ihre
ausserordentlich starke Entwicklung noch nicht
aufgefallen, wo sie in der Ansicht von oben den
Schädel geradezu mit abgerundeten Ecken er-
scheinen lassen? Sie stehen hier senkrecht über
den äusseren Rändern der Augenhöhlen, rücken
um das IO. Jahr über das äussere Dritteil, beim
Jüngling und beim Weibe über die Mitte, beim
Erwachsenen sogar etwas nach innen; dement-
sprechend werden sie immer flacher. Ihre Lage
ist äusserst charakteristisch, ebenso wie ihre ver-
schieden starke Ausbildung. Doch darf man da
nicht übersehen, dass sie bei den aus ärmeren
Volkskreisen sich rekrutierenden Modellen infolge
überstandener Rachitis meist übertrieben stark
sind, hier also für das Alter nicht charak-
teristisch sind.
Die stärkere Ausbildung des Augenbrauen-
wulstes einerseits, die Abflachung der Stirnhöcker
andererseits verändert das ganze Stirnrelief
während des Lebens total und gewährt in ihrer
Anordnung bei verschiedenen Menschen — man
denke noch an die Abweichungen der rechten
von der linken Seite! — einen Formenreichtum,
der unerschöpflich ist. Man beachte da die Form
der Glabella, der Stirnglatze, des über der Nasen-
wurzel gelegenen Feldes. A. Friedei.
(Schluss folgt.)
Eine neue Technik iiir Monumental-
maierei.
Von Prof. Wilhelm Ostwald.
Seitdem die Kulturmenschheit Steinkohlen brennt
statt des in früheren Jahrtausenden ausschliesslich für
Heizzwecke benutzten Holzes, das heisst seit kaum
einem Jahrhundert (in England nicht unerheblich
länger), sind die Lebensbedingungen aller Werke der
bildenden Kunst, insbesondere der monumentalen, von
Grund aus andere geworden. Ich habe bereits in
anderem Zusammenhang auf diese Tatsache hinge-
wiesen, bin aber nicht gewahr geworden, dass man
sie in ihrer grundlegenden Wichtigkeit an massgeben-
der Stelle begriffen hätte. Und doch handelt es sich
um nichts weniger, als dass alle Erfahrungen der
Jahrtausende über die Haltbarkeit der Mate-
rialien, aus denen die Kunstwerke bestehen,
gegenwärtig vollkommen wertlos und unmass-
geblich geworden sind, weil sie unter Bedingungen
gesammelt wurden, die gegenwärtig nicht mehr be-
stehen und durch wesentlich andere ersetzt sind.
Bei der Verbrennung des Holzes und ähnlicher
Stoffe entsteht nämlich nur Wasser und Kohlendioxyd
(gewöhnlich Kohlensäure genannt). Es sind die nor-
malen Bestandteile der atmosphärischen Luft in der
Stadt wie auf dem Lande, da sie auch durch die
natürlichen Zersetzungsvorgänge, denen die Stoffe der
abgestorbenen Pflanzen alljährlich unterliegen, sich der
Atmosphäre mitteilen. Bei der Verbrennung der Stein-
und Braunkohle entstehen diese beiden Stoffe gleich-
falls. Neben ihnen bildet sich aber aus dem Schwefel-
gehalt dieser fossilen Brennstoffe Schwefeldioxyd
(schweflige Säure), das sich den Abgasen beimischt
und als leicht in Wasser lösliches Gas sich im Regen,
Tau und Nebel konzentriert. Durch den Sauerstoff
der Luft geht dieser Stoff sehr bald in Schwefel-
säure über, die ihre ätzenden und zerstörenden
Wirkungen überall ausübt, wo sich die atmosphärischen
Wässer sammeln. Dieser Vorgang findet um so stärker
statt, je mehr Kohle für eine gegebene Zeit und Fläche
verbrannt wird; er ist also in den Grossstädten sehr
viel stärker entwickelt als in den kleinen und fehlt
praktisch auf dem flachen Land. In England, wo die
billige Kohle und der nationale Kamin zu einer be-