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Münchner kunsttechnische Blätter — 6.1909/​1910

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Nr. 15
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Wiegmann, Rudolf; Berger, Ernst: Ueber die Malweise des Tizian und Goethes Farbenlehre
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Münchner kunsttechnische Biätter.

Nr. ty.

58

über*). Die Beobachtung der sich fordernden
oder ergänzenden Farben ist von Goethe zuerst
vöiiig richtig ais eine physiologische Eigen-
art unserer Augen erklärt worden, was hier
gleich beigefügt werden möge, weil diese Ansicht
von den Neueren mitsamt der Bezeichnung „phy-
siologisch" von Goethe übernommen worden ist.
Aber zu Goethes Zeit war man weit entfernt,
diese später von Heimholz-Young und von Hering
ausgeführte Grundidee sich zu eigen zu machen.
Schopenhauer, der sie mit Eifer verfocht, wurde
sogar von Goethe selbst abgewiesen. Heute hat
sie ihre Wiederauferstehung gefunden und die
Wissenschaft erkennt die Verdienste Goethes, was
diesen Punkt betrifft, auch unumwunden an. —
In mehrfacher Beziehung ist es nun von Inter-
esse, zu sehen, wie Wiegmann (und Dräger) aus
den Goetheschen Grundlehren die Gesetze
für deren praktische Anwendung entwickelt und
es genau auseinandersetzt, wie das Wesentliche
in der Technik der altvenezianer Maler mit der
Goetheschen Lehre in Beziehung steht.
Die hier folgende Abhandlung über „die
Tizianische Mal weise" ist mitgeteilt von
R. Wiegmann, Architekt und Professor an der
Kgl. Kunstakademie zu Düsseldorf, nach Ergeb-
nissen der von dem Maler A. Dräger angestellten
Untersuchungen und Versuche, und zuerst im
„Korrespondenz-Blatt des Kunstvereins für die
Rheinlande und Westfalen" abgedruckt, dann
gesondert erschienen in Düsseldorf 1847 (Verlag
von Julius Buddeus). Nach einer allgemein ge-
haltenen Einleitung erzählt Wiegmann (S. 12) von
dem ihm befreundeten, 1833 zu Rom verstorbenen
talentvollen Maler Anton Dräger aus Trier, der
sich aufs eingehendste mit der Technik der alten
Meister beschäftigt hätte. Ganz besonders inter-
essierte ihn Tizian, zu dem ihn eine innere Ver-
wandtschaft hinzog. „Mit unermüdlichem Eifer
studierte er, was er von Werken Tizians nur
zu Gesichte bekam. Vorzügliche Sorgfalt ver-
wendete er auf die Untersuchung verwaschener
oder anderweit beschädigter Bilder desselben, um
der Art der Anlage und Untermalung auf die
Spur zu kommen. Von grosser Wichtigkeit waren
in dieser Beziehung die von diesem Meister hinter-
lassenen Gemälde, die sich zu Neapel und Venedig
befinden. Dräger selbst war im Besitz zweier
Arbeiten Tizians, eines Proülkopfes, der viel-
leicht als Studium gemalt war (im Besitz des
Hannov. Gesandten in Rom, Herrn von Kestner)
(d. h. 1847. Vermutlich befindet sich das Bild
auch in dem von Kestner seiner Vaterstadt Han-
nover gestifteten Sammlung. E. B.) und einer land-
schaftlichen Darstellung mit dem Sturz des Phaeton.
Beide Bilder, besonders aber letzteres, das bereits
*) Im optisch-physikal. Sinne sind die komplemen-
tären Farbenpaare: Blau-Gelb, Rot-Blaugrün, Gelbgrün-
Violett.

sehr verwaschen war, wurden in jeder Hinsicht
auf das gründlichste untersucht und lieferten Re-
sultate, die in Uebereinstimmung mit den ander-
weit erlangten von grosser Wichtigkeit waren.
Aber nicht allein Gemälde, auch alte Bücher,
die irgendwie Aufschluss über Tizians Malweise
versprachen, wurden aufgesucht und durchstöbert.
Alles, was der begeisterte Forscher auf diesen
verschiedenen Wegen gefunden hatte, wurde dann
alsbald der Feuerprobe der Praxis unterworfen.
Er kopierte in der Galerie Borghese das schöne
Bild, auf welchem die Venus dem Amor die Augen
verbindet. Während der Untermalung war Dräger
der Gegenstand des Spottes von Künstlern und
Laien. Als aber das Bild vollendet neben dem
Originale stand und selbst in den unwesentlich-
sten Dingen kaum von demselben zu unterscheiden
war, da machten die Herren gewaltig grosse
Augen. Maler, die zu derselben Zeit Tizian sehe
Bilder kopierten und sich in der gewöhnlichen
Malweise vergebens abmühten, das Licht und die
Farbe der Originale herauszubringen, gaben ihr
Arbeiten lieber auf."
Viele der erwähnten historischen und tech-
nischen Untersuchungen hatte Wiegmann, der da-
mals mit ähnlichen Arbeiten über die antike Wand-
malerei beschäftigt war, mit Dräger gemein-
schaftlich angestellt und er bestimmte ihn, die
Ergebnisse seiner Forschungen sowie auch seine
in den Gesetzen der Aesthetik und Physik nach-
gewiesene Begründung derselben aufzuzeichnen,
um später damit vielleicht einmal an die Oeffent-
lichkeit zu treten. Diese Schrift hatte schon einen
beträchtlichen Umfang gewonnen, als der frühe
Tod Drägers ihrer Vollendung entgegen trat. Zum
Erben derselben hatte der sterbende Freund Wieg-
mann und den talentvollen Maler Erwin Specter
aus Hamburg eingesetzt. Aber auch Specter starb
bald, nachdem er von Rom in seine Heimat zu-
rückgekehrt war, und alle Nachforschungen nach
dem Verbleib der Drägerschen Aufschreibungen
blieben erfolglos. Wiegmann entschloss sich des-
halb, Drägers Wunsch zu erfüllen und alles aus
der Erinnerung niederzuschreiben, was ihm von
Drägers Bemühungen, die von Tizian befolgte
Malertechnik zu enthüllen, bekannt war. Diese
Abhandlung bildet den Inhalt, der hier folgt (S. 16
u. folg, der Schrift).
* *
*
Das Prinzip der Tizianschen Malweise ist diejenige
Theorie von der Entstehung der Farben, welche von
vielen alten Physikern als die einzig richtige aufgestellt
worden und von Goethe der Theorie gegenüber, welche
der grosse Newton ihr entgegenstellte, in Schutz ge-
nommen und mit grossem Aufwand von Geist und
Gelehrsamkeit verteidigt wurde. Ob nun die New-
tonsche oder die Goethesche Ansicht die richtige
sei, darauf kommt es nicht an. Im allgemeinen kann
man sagen, dass die rechnenden Physiker der ersteren,
die Empiriker aber der letzteren anhängen. Jede
Partei geht von gewissen unbewiesenen Voraussetzungen
 
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