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ganzen indischen Leben, den staatlichen und socialen Institu-
tionen wie den geistigen Productionen das Gepräge aufdrückte,
wie es seinen Anschauungen und Wünschen entsprach.
Wie bedeutend die mannigfachen Umwälzungen und Wand-
lungen dieser Jahrhunderte des Ueberganges und der Ent-
wickelung gewesen, vermag man am besten abzuschätzen, wenn
man sich das Resultat derselben, die Periode des indischen
Mittelalters (ca. von dem Jahre 600 v. Chr. an) in ihren her-
vortretendsten Zügen vergegenwärtigt. Ein grösserer Gegensatz,
als er zwischen der Epoche des Mahäbhärata, des Rämäyana
und des Gesetzbuches des Manu im Vergleich mit der Zeit des
Rigveda besteht, lässt sich in der That kaum denken, und ich
stehe nicht an zu behaupten, dass wir in der Efitwickelung
keines einzigen indogermanischen Volkes so ungeheuere Um-
wandlungen, so schroffe Gegensätze vorfinden. Der Gegensatz
des germanischen Mittelalters mit seinem Ritter- und Mönchs-
wesen, seinen Kreuzzügen und Wallfahrern, seinem Heiligen-
und Madonnencultus, seinen Flagellanten und Eremiten, gegen-
über den altdeutschen Zuständen, wie sie Tacitus schildert, ist
freilich gross und bedeutend genug, aber doch noch nicht in
dem Maasse schroff wie der Gegensatz zwischen der vedischen
Zeit und dem Mittelalter bei den Indern. Ja gerade alle die-
jenigen Erscheinungen, welche den fremdländischen Beobachtern
späterer Zeit als die am meisten charakteristischen Eigen-
tümlichkeiten des indischen Volkes 011 vornherein in die
Augen sprangen, sind in der Periode des Rigveda überhaupt
nicht vorhanden.
Vor allen Dingen das Kastenwesen, welches, bei keinem
Volke der Erde mit solcher Schroffheit ausgebildet, mit eiserner
Gewalt das ganze Leben und Denken der Inder beherrschte
und die niederen Classen des Volkes in tiefes, grenzenloses
Elend stiess. Sodann der unerschütterliche Glaube an die
Seelenwanderung, von welcher im Rigveda noch keine Spur
wahrzunehmen ist und welche doch schon im sechsten Jahr-
hundert v. Chr. so allgemein als unumstössliches Dogma geglaubt
wurde, dass des Gautama Buddha alleiniges Streben darauf
gerichtet war, den Weg zu finden, wie sich der gequälte
Mensch von der Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien
vermag. Ein furchtbarer und schwer lastender Glaube, der in
Indien keineswegs auf die Dogmatik von Philosophen und
Priestern beschränkt ist, sondern vielmehr das gesammte Volk
durchdringt, sein Handeln und Denken beständig beeinflusst.
Ferner das ausgebildete Einsiedler- und Biisserwesen, jene
ganzen indischen Leben, den staatlichen und socialen Institu-
tionen wie den geistigen Productionen das Gepräge aufdrückte,
wie es seinen Anschauungen und Wünschen entsprach.
Wie bedeutend die mannigfachen Umwälzungen und Wand-
lungen dieser Jahrhunderte des Ueberganges und der Ent-
wickelung gewesen, vermag man am besten abzuschätzen, wenn
man sich das Resultat derselben, die Periode des indischen
Mittelalters (ca. von dem Jahre 600 v. Chr. an) in ihren her-
vortretendsten Zügen vergegenwärtigt. Ein grösserer Gegensatz,
als er zwischen der Epoche des Mahäbhärata, des Rämäyana
und des Gesetzbuches des Manu im Vergleich mit der Zeit des
Rigveda besteht, lässt sich in der That kaum denken, und ich
stehe nicht an zu behaupten, dass wir in der Efitwickelung
keines einzigen indogermanischen Volkes so ungeheuere Um-
wandlungen, so schroffe Gegensätze vorfinden. Der Gegensatz
des germanischen Mittelalters mit seinem Ritter- und Mönchs-
wesen, seinen Kreuzzügen und Wallfahrern, seinem Heiligen-
und Madonnencultus, seinen Flagellanten und Eremiten, gegen-
über den altdeutschen Zuständen, wie sie Tacitus schildert, ist
freilich gross und bedeutend genug, aber doch noch nicht in
dem Maasse schroff wie der Gegensatz zwischen der vedischen
Zeit und dem Mittelalter bei den Indern. Ja gerade alle die-
jenigen Erscheinungen, welche den fremdländischen Beobachtern
späterer Zeit als die am meisten charakteristischen Eigen-
tümlichkeiten des indischen Volkes 011 vornherein in die
Augen sprangen, sind in der Periode des Rigveda überhaupt
nicht vorhanden.
Vor allen Dingen das Kastenwesen, welches, bei keinem
Volke der Erde mit solcher Schroffheit ausgebildet, mit eiserner
Gewalt das ganze Leben und Denken der Inder beherrschte
und die niederen Classen des Volkes in tiefes, grenzenloses
Elend stiess. Sodann der unerschütterliche Glaube an die
Seelenwanderung, von welcher im Rigveda noch keine Spur
wahrzunehmen ist und welche doch schon im sechsten Jahr-
hundert v. Chr. so allgemein als unumstössliches Dogma geglaubt
wurde, dass des Gautama Buddha alleiniges Streben darauf
gerichtet war, den Weg zu finden, wie sich der gequälte
Mensch von der Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien
vermag. Ein furchtbarer und schwer lastender Glaube, der in
Indien keineswegs auf die Dogmatik von Philosophen und
Priestern beschränkt ist, sondern vielmehr das gesammte Volk
durchdringt, sein Handeln und Denken beständig beeinflusst.
Ferner das ausgebildete Einsiedler- und Biisserwesen, jene