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Schroeder, Leopold von
Indiens Literatur und Cultur in historischer Entwicklung: ein Cyklus von 50 Vorlesungen, zugl. als Handbuch der indischen Literaturgeschichte, nebst zahlr., in dt. Übers. mitgeteilten Proben aus indischen Schriftwerken — Leipzig, 1887

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https://doi.org/10.11588/diglit.16152#0675

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Fünfundvierzigste Vorlesung.

Die Spruchpoesie des indischen Mittelalters.

Die Neigung zum Reflectiren und Speculiren ist tief im
Wesen des indischer Volkes begründet, ja sie bildet einen
seiner hervorstechendsten Charakterzüge. Dieselbe hat auf re-
ligiösem und wissenschaftlichem Gebiete bedeutende Leistungen
zu Wege gebracht, aber auch die Poesie ist nicht leer dabei
ausgegangen; auch ihr sind aus derselben Quelle reiche Schätze
zugeströmt, die wohl wetteifern können mit den Edelsteinen
und andern kostbaren Erzeugnissen des alten Wunderlandes.

Neben der zu Weltberühmtheit gelangten Literatur der
Fabeln sind es vor Allem die Sprüche der Weisheit, in
welchen die Reflexion der Inder poetischen Ausdruck ge-
wonnen hat. Eine Fülle tiefsinniger, weiser, edler, oft im höch-
sten Grade origineller und frappirender Gedanken findet sich
hier in scharfer, klarer, oft sehr kunstvoller Form ausgeprägt.
An ihrer Spruchweisheit besitzen die Inder ein eigenartiges
Kleinod, dem nur wenig Aehnliches aus andern Literaturen
ebenbürtig an die Seite gestellt werden kann. Um diesen Zweig
ihrer Poesie und sein Verständniss hat sich vor Allem Otto
Böhtlingk ein hervorragendes Verdienst erworben, durch seine
„Indischen Sprüche",1 welches Werk nicht nur philologisch
eine bedeutende Leistung, sondern durch die jedem Spruch bei-
gegebene meisterhafte Uebersetzung höchst werthvoll ist für
Jedermann, der einen Blick in die Gedankenwelt der Inder
thun will.

Es finden sich diese gnomischen Dichtungen der Inder nur
zum kleineren Theile in besonderen Werken vereinigt, die aus-
schliesslich Sprüche enthalten; so vor Allem in den beiden Cen-
turien des geistvollen Dichters Bhartrihari, dem Nitigataka

1 Indische Sprüche. Sanskrit und Deutsch. 3 Bände, St. Peters-
burg, 1863 —1865; 2. Aufl., 1870 —1873. Die 1. Auflage enthält 5419
Verse, die 2. Auflage 7613.
 
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