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Schroeder, Leopold von
Indiens Literatur und Cultur in historischer Entwicklung: ein Cyklus von 50 Vorlesungen, zugl. als Handbuch der indischen Literaturgeschichte, nebst zahlr., in dt. Übers. mitgeteilten Proben aus indischen Schriftwerken — Leipzig, 1887

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https://doi.org/10.11588/diglit.16152#0336

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— 328 —

So scheint denn die Gestalt des grossen Gottes Vishnu
zusammengeschmolzen zu sein aus dem vedischen Vishnu mit
dem Näräyana der Brahmanen-Schulen und mit den Volksgöttern
Hari, Janärdana und Vasudeva, — eine Genesis, die gewiss
merkwürdig genug genannt zu werden verdient.

Dass bei diesem Process, aus welchem der grosse Gott
Vishnu hervorgeht, die Brahmanen des Gangeslandes bewusst
handelnd, mit der Absicht einer religiösen Reform, eingriffen,
ist in hohem Grade wahrscheinlich. Es war ja nicht bloss der
abstracte und wesenlose Charakter jenes obersten Brahman, in
welchem die Brahmanen den ganzen Pantheon aufgelöst hatten
und der doch selbst nie zu rechtem Leben gelangen konnte;
nicht nur das Verblassen der vedischen Götter, was eine reli-
giöse Verödung, eine Lücke im Gemüthsleben hervorrief und so
zu einer Reform drängte. Es war vielmehr auch ein positiver
Feind, der jetzt den Brahmanen gegenüber stand, — der Bud-
dhismus! Drang die Lehre des Cäkya-Sohnes durch, dann
bedeutete dies eine Auflösung der ganzen religiösen und so-
cialen Ordnung des Brahmanenthums, an der so viele Jahr-
hunderte gearbeitet. Dann waren die Götter beseitigt, das
Opfer, die so unsäglich mühsam erarbeitete Opferordnung ab-
gethan, dann fielen die Kasten zusammen, und das Mönchthum
vernichtete die Wurzeln des erblichen Priesterstandes. Gegen
den Buddhismus zu kämpfen, wenn auch mit friedlichen Mitteln,
war darum die erste Aufgabe der Brahmanen in den Jahr-
hunderten unmittelbar nach Buddha. Es war dies geboten
durch den Selbsterhaltungstrieb, mächtig angespornt durch die
unglaublichen Erfolge, die die Lehre des Buddha in Kurzem
errang.

Nicht ablassend von den Resultaten ihrer früheren Specu-
lation, fühlten die Brahmanen doch deutlich, dass das Volk
eines lebendigen, persönlichen, gütigen Gottes bedurfte, dessen
Verehrung seit Alters schon im Volksbewusstsein fest wurzelte.
Hier war eine Handhabe, hier das einzige Mittel geboten, wirk-
sam jenen erkenntnissstolzen Jüngern des Buddha zu begegnen,
die einen Menschen über alle Götter setzten und das Opfer ver-
achteten. So beförderten denn die Brahmanen die bei mehreren
Stämmen des Gangeslandes herrschende Verehrung des Vishnu,
verschmolzen ihn mit Näräyana, dem höchsten Herrn, den sie
verehren wollten, identificirten ihn mit den bei anderen Stämmen
einheimischen Volksgöttern Hari, Janärdana und Vasudeva, und
schufen endlich so Vishnu, den grossen Gott des Gangeslandes.
 
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