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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Zehntes Heft
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Schreyer, Lothar: Erziehung der künstlerischen Kräfte
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0174

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schliessen sich die noch Unerzogenen in
natürlicher Ordnung. Er vermag zu führen,
wo Unvernunft und Irrtum keinen Weg
wissen. Er führt dadurch, dass er sich
selbst führt. Er kann, darf und will die
Unvernünftigen und Irrenden nicht zwingen.
Jeder muss den Weg selbst finden. Der
Führer hat durch sein Beispiel zu zeigen,
dass der Mensch einen Weg hat.
In den meisten Erziehungsgemeinschaften
sind nur Irrende und Suchende. Die Men-
schen suchen sich und irren, solange sie
äusser sich suchen. Eine solche Erziehungs-
gemeinschaft hat Bestand und in ihr kann
der einzelne zum Ziel gelangen, solange
jeder einzelne das Grundgesetz der Gemein-
schaft hält: dieses Gesetz ist: Toleranz
gegen den Irrtum des anderen. Wer die-
ses Gesetz bricht, zerstört die Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft ist nicht dadurch zu
retten, dass der Gesetzbrecher ausgestossen
wird. Die Gemeinschaft ist nur dadurch
zu retten, dass der Gesetzbrecher sich frei-
willig ausschliesst.
In vielen Erziehungsgemeinschaften, fast
allen grösseren, herrscht die Unvernunft.
Dann besteht die Gemeinschaft nur dem
Namen nach. Eine Erziehung ist unmög-
lich. Die Kräfte werden ausgebeutet und
unterdrückt. Der schöpferische Mensch
wird vernichtet. Der vernünftige Mensch
verlässt die Unvernunft. Er verlässt die
eingebildete Gemeinschaft, die unvernünftige
Familie, die unvernünftige Schule. Ist die
Gemeinschaft so gross, dass er sie nicht
verlassen kann — nur das Volk ist diese
Gemeinschaft —, so ist seine Aufgabe, sich
der Vernunft zum Opfer zu bringen, indem
er immer wieder die Vernunft verkündet
und lebt.
Jeder Mensch kann sich erziehen, wenn er
sich nicht selbst oder eine eingebildete Ge-
meinschaft ihn nicht hindert. Jeder Mensch
hat schöpferische Kraft. Jeder Mensch hat
künstlerische Kraft. Es ist ein Irrtum, an-
nehmen, dass nicht jeder Mensch Kunst-
werke schaffen könne. Wer das annimmt,
leugnet die Volkskunst und vergisst, dass
die Kunstwerke des Individualismus die
letzten Beste oder heute vielleicht wieder
ersten Anfänge einer Volkskunst sind. Es
ist Unvernunft, die schöpferische Kraft des
Menschen zu brechen. Ehe wir uns von
solcher Unvernunft und solchem Irrtum

nicht freimachen, bleiben die schöpferischen
Kräfte unerzogen.
Wir sind Glieder der Erziehungsgemein-
schaft Volk. In unserem Volk herrscht die
Unvernunft. Die Revolution hat die Herr-
schaft der Unvernunft dem Volk zum Be-
wusstsein gebracht. Wir haben die Auf-
gabe, die Vernunft zum Bewusstsein zu
bringen. Vernunft ist Gesetzmässigkeit,
Ordnung. Erkenntnis der schöpferischen
Kräfte und Erziehung der künstlerischen
Kräfte ist das Mittel, die Vernunft, die ver-
nünftige Ordnung des Geistes in der Materie
allen zum Bewusstsein zu bringen.
Die Erziehung der künstlerischen Kräfte
soll Aufgabe der Schule sein. In der
Schule herrscht meist Irrtum, oft Unver-
nunft. Herrscht Unvernunft, so werden die
künstlerischen Kräfte ausgebeutet oder
unterdrückt, sie können nicht ordentlich
wachsen. Die Menschen werden unordent-
lich und ihre Werke unschöpferisch.
Herrscht der Irrtum, so können sich trotz-
dem die künstlerischen Kräfte bilden unter
der Toleranz aller Glieder der Gemeinschaft.
II
Aus diesen Sätzen ergeben sich folgende
Erkenntnisse für die Erziehung der künst-
lerischen Kräfte:
1. Es wird keine B e r u f s k ü n s 11 e r
mehr geben.
In jedem Menschen sollen die künstlerischen
Kräfte erzogen sein, dass er Kunstwerke
schaffen kann. Das Schaffen von Kunst-
werken wird so selbstverständlich sein, wie
es heute selbstverständlich ist, dass der
Mensch lesen und schreiben kann. Nie-
mand kann heute Lesen und Schreiben als
Beruf ausüben, aber kein Beruf ist denk-
bar ohne Lesen und Schreiben. So wird
kein Beruf denkbar sein ohne künstlerisches
Gestalten. Wir schreiben heute einen Brief
und können andern Menschen unsere innere
Welt mitteilen. Mit derselben Schreibfähig-
keit schreiben wir einen chemischen Unter-
suchungsbericht. Ebenso werden wir später
unsere innere Welt im Kunstwerk aus-
drücken können mit derselben Fähigkeit,
mit der wir unseren Beruf gestaltend ord-
nen. Der Künstler als Beruf wird als ein
Irrtum angesehen werden, dem eine unge-
ordnete Zeit verfiel.
Was sollen wir dazu tun? Tolerant sein

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