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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Elftes Heft
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Déry, Tibor: Blaue Glasfiguren, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0204

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Die Glasfiguren starrten zitternd auf die
in den Strassen brüllende Menge. Den
Männern wuchsen Fahnen aus den Ell-
bogen, die Frauen lagen in den Kanälen
und liessen schwarzes Gebrüll zum Himmel
steigen. Ein Stein fing an zu rollen und
stiess einen Skorpion, der Skorpion zwickte
einen Hund, der Hund lief und biss ein
Pferd, das Pferd bäumte sich und versetzte
einem Menschen einen Tritt, der Mensch
biss in die Kehle seiner Mutter und sagte:
warum hast du mich geboren? Der Schatten
frass unaufhaltsam, den Bauch zum Zer-
platzen, er klatschte mit den Händen und
lief mit einer Schnelligkeit, dass die Ver-
folger ihn beinahe aus dem Auge verloren.
Die Glasfiguren sagten: der Schatten ist
lächerlich und dumm. Dümmer und
lächerlicher, wie eine verdorbene Wanduhr.
Und doch werden wir mit ihm nicht fertig.
Stille Trauer, erblühe in unserem Herzen! —
Sie schwammen über die Wiesen.
Die Nacht war gross, die Menschen waren
überall unglücklich. In grossen Gruppen
standen sie im Freien und schauten auf
den Himmel. Aber sie sahen nichts, ver-
gebens galoppierten mit Feuer im Munde
die Glasfiguren zwischen den Wolken. Es
war ganz still unter dem Wasser und über
dem Wasser. Vom Baum fiel ein Eisen-
apfel, zerbarst in Schnitte, aus dem Gehäuse
flog kreischend eine rote Fledermaus und
spuckte in die traurigen Gesichter. Die
Vögel verkrochen sich unter die Erde. Man
erwürgte einen Hund. Regen fiel.
Unten, aus den Dachkammern, strömt Jodo-
formgeruch und verbundene Köpfe beugen
sich aus den Fenstern.
Ein blasser Beamter legt sich vor den Zug
und öffnet seine undurchsichtige Brust.
Ihr kleinen Waisen! Glasfäden schleppt
ihr in den kotigen Strassen und seid er-
schrocken: wer rast mit Mondaugen hinter
euren Röckchen!
Aus den Schlachthäusern schwreben mit
grossen Kuheutern die Seelen empor und
entfliehen in die Kammern, in die Abtritte
und unter die Betten der Menschen.
Jungfrau! Du kannst in kein Kino mehr
gehen, dein Goldhaar ist ausgegangen.
Der Friedhof fliegt über die Stadt und lässt
giftige Gase vor die Pforten fallen.
Schöne weisse Frau vergiftet ihre sieben
Töchter.

Legt euch quer übereinander, wie die Lei-
chen und lasset den Turm der Unglück-
seligkeit aufbrechen. Jetzt gibt es viele
Tote. Jelzt ist auch schon die Luft Gift,
vielleicht wird sie den Feind töten. Viel-
leicht stolpert er über jenen Kuss, den sich
zwei fremde Menschen im Strassengraben
geben. Vielleicht stürzt er herunter und
stirbt schrecklichen Todes. Vielleicht er-
reichen ihn die Glasfiguren!
Er drehte sich in der Luft um und stürzte
schreiend herunter. Eine grosse graue
Lache bildete sich um seinen Körper —
vielleicht Blut? Die Verfolger fassten sich
an der Hand, sausten ihm mit beklomme-
nem Herzen nach. Bald werden sie ihn ein-
holen. Die Friedhöfe erglänzten.
Doch die mittlere Glasfigur schrie plötzlich
auf, blieb stehen, verwandelte sich in dichte
Erde, stieg mit zugeklappten Flügeln rasch
zur Erde nieder. Da lag ein Mensch mit
einer blutenden Wunde, die wie ein Solitär
auf seiner Stirne leuchtete. Sie setzte sich
neben ihn. Die zwei Glasfiguren rannten
dem Schalten nach, aber ihre Füsse waren
langsam und zitternd, wie die der Seil-
tänzer. Und der Schatten lachte wie ein
Hirsch über den Wäldern. Die Glasfiguren
streckten die Arme aus, sie ermatteten. Sie
hingen in der Luft, ein Gähnen des Grauens
spannte ihren Mund, der Schatten enteilte
und schwenkte w’ie eine langgestreckte
Linie hinter die Mauern. Die mittlere Glas-
figur sass unten auf der Erde, neben dem
kranken Menschen und weinte. — Warum
hast du uns verlassen? — klang von Wei-
tem die schmerzliche Frage, klang und
erstarb zwischen den Rollen. Aber der
Körper des Krankenwärters war bereits in
taube Erde verwandelt und die Iränen
umfingen ihn, wie ein unsichtbarer Draht-
käfig. Die Glasfiguren hingen über dem
Wald und keuchten.
_ Nie? — fragte die Aelteste und der Kopf
fiel ihr auf die Brust.
Die Jüngste sagte: Blut, Blut, überall Blut,
und jetzt wird das letzte Tier sterben.
Der Kranke erhob sich ächzend vom
Pflaster, er hustete und wischte sich den
Schweiss von der Stirne. — Komm! —
sagte die Glasfigur und griff ihm mit barm-
herziger Hand unter die Achsel. Aber der
Kranke liess sich wieder auf den Asphalt
nieder.

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