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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Elftes Heft
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Déry, Tibor: Blaue Glasfiguren, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0206

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Friedhof. Der Kranke beugte sich ihnen
mit langem Halse nach und biss sie in die
Fersen. In den Strassen krochen wie Würmer
grossköpfige, gelbe Kinder herum.
— Ich werde sie zertreten — sagte der
Kranke — denn unziemlich kitzeln sie mir
die kranken Sohlen. Wer erbarmt sich
meiner, der ich arm und unglücklich bin?
— Stich mir die Stirne durch! — sagte die
Glasfigur.
Der Wind zerbrach die Laternen, die
Scherben fielen auf den Asphalt. Ein durch-
leuchtetes Spital liess sich vor ihnen zur
Erde nieder, die Thermometer klirrten und
aus den Fenstern beugten sich weissgeklei-
dete Krüppel und zeigten ihnen die Zungen.
Der Kranke wütete und schäumte. — Ich
bin kränker als jene — schrie er — zündet
das Spital an. Oh, grosser Engel, hebe
deine Augenlider auf und betrachte diese
Verfluchten! —
Das Spital verschwand, ein breiter Fried-
hof streckte sich vor ihnen im Schnee aus.
Die Toten sassen auf der Erde und lasen sich
gegenseitigihreGrabinschriften vor. DerWind
legte sich, der Friedhofswächter schnarchte
und die kleinen Schnecken krochen lang-
sam die Mondstrahlen hinauf. Das Licht
des gegenüberliegenden Cafehauses schlug
über die Mauer.
— Ich will leiden — sagte die Glasfigur —
und die verschnupften Menschen pflegen! —
Der Kranke klopfte ihm auf den Bauch. —
Sagen Sie nicht solche Sachen — sagte er
— sonst werde ich schwach. Schon habe
ich Kopfweh! —

Es wurde Sommer, die Schwalben flogen
um die Schänke herum, der Kranke wollte
nicht aufstehen. Im Winter sagte die Glas-
figur: gehen wir jetzt! Der Kranke wurde
immer schwächer. Mit seinem Arm griff
er in das Fenster des Wirtshauses, hob
einen Krug voll Rosmarinduft über die
Stirne. Wenn ihn die Glasfigur berührte,
magerte er sofort ab. Nach Jahren konnte
er nur mehr mit ersterbender Stimme
fluchen. Die Glasfigur flog auf das Dach
und schaute traurig auf die Erde zurück.
Der Kranke setzte sich mit sichtbarer Er-
leichterung auf und ass schnell eine Ratte.
— Wetten wir! — sagte er — ich wäre an
dieser chronischen Augenentzündung gestor-
ben. Wer kann einen solchen Glanz aus-
halten? Ehren wir sein verehrungswürdiges
Andenken mit einem Turm aus schönem
Rosenquarz und schwenken wir auf den
Knien massive Liliensträusser! —
— Wieviel Zeit haben wir vergeudet! —
sagten die Glasfiguren, als die Mittlere zurück-
kehrte. Ihre Brust war dunkel, ihr Hals ge-
bogen und ihre Hände in Scherben geschlagen.
* *
*
Der Vogel sagte: Tanzen wir im Gras, wenn
die Sonne aufgeht! Die Glasfiguren fassten
sich an der Hand, überholten den Schatten,
bohrten ihm ein Loch in den Bauch. Alles
kam heraus, was drinnen war: das Feuer,
die Häuser, die Tiere, die Blumenstöcke,
die Erde, der Bräutigam, die Braut und
die Menschen. Die Engel niesten. Der
Vogel sagte: es ist nichts geschehen.
Ende

Inhalt
Herwarth Walden: Weit und weiter — weiter
Kurt Heynicke: Tai-a-oh
Vasari: Mar Baltico
Hans Arp: Gedichte
Sjoerd Broersma: Gedichte
Kurt Liebmann: Rudolf Blümner
Franz Hoffmann: Gedichte
Werner Schumitz: Gedichte
Tibor Dery: Blaue Glasfiguren
Hans Mattis Teutsch: Zwei Holzschnitte / Vom Stock gedruckt
M. H. Maxy: Zwei Holzschnitte / Vom Stock gedruckt
Natalie Gontscharowa: Espagnole
November 1923 Das Dezemberheft erscheint zu Weihnachten
 
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