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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 17.1925

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Martinie, Henri: Junge Bildhauer in Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.42040#0102

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Mit acht Abbildungen auf fünf Tafeln

Von H. MARTINIE

DER Einfluß von Rodin war für die Zukunft der Plastik höchst gefährlich,
und für diese Gefahr können die Nachfolger des Michelangelo unter recht
ähnlichen Verhältnissen als Beispiel dienen. Das Genie spielt mit den Gesetzen
— wenn es sie nicht verlacht —, und gerade diese Phantasien sind auch für
begabte Künstler verhängnisvoll, wenn sie im Grunde die Regel als Stütze und
Führung brauchen. Zum Glück hat sich ein Künstler aus der Zeit von Rodin
selbst gefunden, Lucien Schnegg, der durch seinen klaren Blick und seine Be-
gabung dazu beitrug, die Plastik wieder unter wohlbegründete Gesetze zu brin-
gen. Die reiche Schöpfung Rodins enthielt wohl Werke von geradezu klas-
sischer Vollkommenheit, aber nur zu viele Bildhauer hielten sich am liebsten
an die Beispiele genialer Regellosigkeit in der Hoffnung, hier leichter nach-
gehen und sich gleichfalls als Talent bewähren zu können. Wie kindlich diese
Ansicht war, zeigen die in diesem Geiste entstandenen Werke nur allzu klar.
Die Plastik geriet unter die Herrschaft des Melodramas und drohte, in die
niedrigste Sentimentalität zu versinken.
Hier setzte der Einfluß von Lucien Schnegg vermittelnd ein, der es verstand,
einige junge, am Beginn ihrer Laufbahn stehende Künstler um sich zu ver-
sammeln. Was er predigte und für sich selbst als bindend betrachtete, war die
Notwendigkeit, die Plastik unter die Gesetze der Architektur zu stellen und in
einem Werke der Plastik vor allem als Bildhauer zu arbeiten. Mit anderen
Worten: er meinte, daß man zuerst nach schönen Maßen und Proportionen
streben sollte, und daß sich das Bemühen um den Ausdruck den apriorischen
Gesetzen der Plastik unterordnen müßte. Das bedeutete eine Rückkehr zur
klassischen Kunst.
Lucien Schnegg starb zu jung, um die Früchte seiner Ästhetik zu ernten.
Trotzdem er Werke von hohem Wert hinterlassen hat, die durchaus zugunsten
seiner Lehre sprechen, bleibt er ein Vorläufer, der auf seiner Laufbahn zu zei-
tig aufgehalten wurde. Es blieb einigen seiner Schüler vorbehalten, uns Mei-
sterwerke (das Wort ist nur gerecht) zu schenken, die die Vortrefflichkeit
seiner Schule beweisen.
Die Leser des „Cicerone“ wissen, was man von dem Werk von Despiau zu
halten hat, der den Ruhm verdient, den Gedanken von Lucien Schnegg in
wundervollster Weise verwirklicht zu haben. Bekanntlich können sich seine
Büsten den schönsten aller Schulen zur Seite steilen. Naturgemäß neigt er da-
zu, in einem Porträt die idealen Linien herauszubringen, die meistens von den
persönlichen Zügen verborgen -werden. Er verzichtet auf Individualität, um
den Typus zu erfassen. Ein Wunder ist es, wie er trotzdem den Charakter fest-
hält. Die eine Büste könnte man für eine Diana halten, die andere für eine
Juno — und doch sind es Porträts.
Jane Poupelet, die Lieblingsschülerin von Lucien Schnegg, gehört unter
unsere bedeutendsten Plastiker. Ihr Name ist anmutig, und sein Klang würde
Ronsard teuer gewesen sein; doch führt ihn ein energisches, gestrafftes Talent,
von einer Harmonie ohne Schwäche und Weichlichkeit. Ihre Reihe weib-
licher Akte, vielleicht das schönste, moderne Gesamtwerk zeigt, daß sie beson-
ders die Bildhauerin der modernen Frau ist. Auf anderem Gebiete sichern ihre
Tierplastiken ihr gleichfalls einen Platz an erster Stelle.
 
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