Dunoyer de Segonzac
Mit zwölf Abbildungen auf sechs Tafeln und einer Textabbildung [ Von CLAUDE ROGER-MARX
1914—1924: Beinahe auf den Tag liegen zehn Jahre zwischen den beiden ein-
zigen Gesamtausstellungen, die Dunoyer de Segonzac (geb. 1884) veranstaltet
hat. Neben kürzlich entstandenen Bildern konnte man an derselben Stelle wie
damals „Die Trinker“ und „Das Frühstück auf dem Rasen“ wiederfinden. Die
Einheitlichkeit war bei dieser Zusammenstellung so vollkommen, daß das
Publikum sich der gewohnten Mühe, bei ein und demselben Künstler aufein-
ander folgende Einflüsse und Stilarten festzustellen, enthoben fühlte. Hier
spürt man nichts von der doppelten Erschütterung, die die Werke der meisten
Zeitgenossen gleichsam in Stücke bricht: Kubismus und Krieg. Selbst die
stillen Feinde dieses Jüngeren, dem der Ruhm ohne sein Zutun so frühzeitig
gelächelt hatte, ließen ihre Rachegedanken beiseite und schienen beim Fort-
gehen entwaffnet. Eine Ehrfurcht gebietende Kraft erschloß sich in so schlich-
ter und überzeugender Weise, daß die großen Worte aus den Tagen der glatten
Malerei keine Geltung mehr hatten. Für die wenigen Geister, die schon vor dem
Kriege in Segonzac einen der hervorragendsten Maler seiner Generation geahnt
hatten und die das unter dem Einfluß Picassos und seiner Getreuen schriftlich
zu äußern gewagt hatten, bedeutete diese wundervoll dargestellte Auswahl von
mehr als dreißig Gemälden und fünfzehn Aquarellen oder Zeichnungen fast ein
Gefühl des persönlichen Sieges. Zeigt sich nicht eine großartige Verwandtschaft
zwischen diesen Werken und dem Vorzüglichsten, was die Malerei im vergange-
nen Jahrhundert hervorgebracht hat? Besteht hier nicht eine natürliche Ab-
stammung, anders als sie viele junge Künstler, die an Ahnen kaufende Ameri-
kaner erinnern, bald in bezug auf Ingres, bald auf Corot oder Greco in An-
spruch nehmen? Die Namen Courbet, Manet kommen unwillkürlich auf die
Lippen und man denkt daran, mit welcher Sicherheit Segonzac diese großen
Beziehungen der Zukunft übermitteln wird. Durch eine ungeahnte, allmähliche
Veränderung sind seine Bilder, die wir mitunter zu düster, deren Farben wir
etwas zu schwer aufgetragen fanden, immer lichter geworden. Die „Materie“
hat den Künstler nicht im Stich gelassen, wie man fürchtete, sie hat im Gegen-
teil unermüdlich weitergearbeitet; die unteren, im Ton kräftigeren Schichten,
welche durch die nachfolgenden zu sehr gedämpft worden waren, schimmern
immer mehr hervor. Alles, was in der Ausführung etwas brutal und hart er-
scheinen konnte, wurde wunderbar weich und aufgelockert.
Andre de Segonzac, der von Edelleuten aus Bourgogne und Quercy ab-
stammt, hat eine Vorliebe für deren Gesten, ihren Dialekt, den Geruch ihrer
Scholle — ein aristokratischer und ländlicher Atavismus. Andere, die so wie ler
um ihres Talentes und ihres heiteren Wesens willen gefeiert worden wären,
hätten den Kopf verloren. Aber er hat Mittel zur Verteidigung und floh aus
Paris, sobald er die Gefahr seiner Berühmtheit spürte. Er lebt in einem Dorf-
gasthaus, gekleidet wie ein Bauer oder Fischer; in Holzschuhen und Woll-
jacke, mit verwildertem Bart führt er sein Malergerät mit sich in den dichten
Wald, trotz dem Frost und der Sommerhitze, und kräftigt sich im Kontakt mit
der Erde immer wieder. Seit langem hat sich die Stimme der Erde nicht mit
solcher Macht vernehmen lassen. „Die Trinker“ zeigen die Gruppe zweier
Bauern in einer Dorfschänke. Jedes seiner Stilleben wurde durch vertraute
Gegenstände angeregt: Der Tisch aus gewöhnlichem Holz, der derbe Stein-
krug, das Stück Braten, die frisch abgeschnittenen Gemüse, das hausbackene
Der Cicerone XVII. Jahrg., Heft n
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Mit zwölf Abbildungen auf sechs Tafeln und einer Textabbildung [ Von CLAUDE ROGER-MARX
1914—1924: Beinahe auf den Tag liegen zehn Jahre zwischen den beiden ein-
zigen Gesamtausstellungen, die Dunoyer de Segonzac (geb. 1884) veranstaltet
hat. Neben kürzlich entstandenen Bildern konnte man an derselben Stelle wie
damals „Die Trinker“ und „Das Frühstück auf dem Rasen“ wiederfinden. Die
Einheitlichkeit war bei dieser Zusammenstellung so vollkommen, daß das
Publikum sich der gewohnten Mühe, bei ein und demselben Künstler aufein-
ander folgende Einflüsse und Stilarten festzustellen, enthoben fühlte. Hier
spürt man nichts von der doppelten Erschütterung, die die Werke der meisten
Zeitgenossen gleichsam in Stücke bricht: Kubismus und Krieg. Selbst die
stillen Feinde dieses Jüngeren, dem der Ruhm ohne sein Zutun so frühzeitig
gelächelt hatte, ließen ihre Rachegedanken beiseite und schienen beim Fort-
gehen entwaffnet. Eine Ehrfurcht gebietende Kraft erschloß sich in so schlich-
ter und überzeugender Weise, daß die großen Worte aus den Tagen der glatten
Malerei keine Geltung mehr hatten. Für die wenigen Geister, die schon vor dem
Kriege in Segonzac einen der hervorragendsten Maler seiner Generation geahnt
hatten und die das unter dem Einfluß Picassos und seiner Getreuen schriftlich
zu äußern gewagt hatten, bedeutete diese wundervoll dargestellte Auswahl von
mehr als dreißig Gemälden und fünfzehn Aquarellen oder Zeichnungen fast ein
Gefühl des persönlichen Sieges. Zeigt sich nicht eine großartige Verwandtschaft
zwischen diesen Werken und dem Vorzüglichsten, was die Malerei im vergange-
nen Jahrhundert hervorgebracht hat? Besteht hier nicht eine natürliche Ab-
stammung, anders als sie viele junge Künstler, die an Ahnen kaufende Ameri-
kaner erinnern, bald in bezug auf Ingres, bald auf Corot oder Greco in An-
spruch nehmen? Die Namen Courbet, Manet kommen unwillkürlich auf die
Lippen und man denkt daran, mit welcher Sicherheit Segonzac diese großen
Beziehungen der Zukunft übermitteln wird. Durch eine ungeahnte, allmähliche
Veränderung sind seine Bilder, die wir mitunter zu düster, deren Farben wir
etwas zu schwer aufgetragen fanden, immer lichter geworden. Die „Materie“
hat den Künstler nicht im Stich gelassen, wie man fürchtete, sie hat im Gegen-
teil unermüdlich weitergearbeitet; die unteren, im Ton kräftigeren Schichten,
welche durch die nachfolgenden zu sehr gedämpft worden waren, schimmern
immer mehr hervor. Alles, was in der Ausführung etwas brutal und hart er-
scheinen konnte, wurde wunderbar weich und aufgelockert.
Andre de Segonzac, der von Edelleuten aus Bourgogne und Quercy ab-
stammt, hat eine Vorliebe für deren Gesten, ihren Dialekt, den Geruch ihrer
Scholle — ein aristokratischer und ländlicher Atavismus. Andere, die so wie ler
um ihres Talentes und ihres heiteren Wesens willen gefeiert worden wären,
hätten den Kopf verloren. Aber er hat Mittel zur Verteidigung und floh aus
Paris, sobald er die Gefahr seiner Berühmtheit spürte. Er lebt in einem Dorf-
gasthaus, gekleidet wie ein Bauer oder Fischer; in Holzschuhen und Woll-
jacke, mit verwildertem Bart führt er sein Malergerät mit sich in den dichten
Wald, trotz dem Frost und der Sommerhitze, und kräftigt sich im Kontakt mit
der Erde immer wieder. Seit langem hat sich die Stimme der Erde nicht mit
solcher Macht vernehmen lassen. „Die Trinker“ zeigen die Gruppe zweier
Bauern in einer Dorfschänke. Jedes seiner Stilleben wurde durch vertraute
Gegenstände angeregt: Der Tisch aus gewöhnlichem Holz, der derbe Stein-
krug, das Stück Braten, die frisch abgeschnittenen Gemüse, das hausbackene
Der Cicerone XVII. Jahrg., Heft n
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