Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 17.1925
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Heft 5
DOI Artikel:Wolfradt, Willi: Von Delacroix bis Picasso: Ausstellung bei Hugo Perls in Berlin
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Von Delacroix bis Picasso
Ausstellung bei Hugo Perls in Berlin
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln Von WILLI WOLFRADT
EINE Epoche wird rekapituliert. Ihre Werte sind uns vertraut, bewußt, sind
immer noch Grundlage unserer künstlerischen Begriffe, kaum erschüttert
durch all die revolutionären Vorgänge moderner Formentwicklung. Vielleicht
wäre heute doch bereits jene erstaunliche, entdeckerische Jahrhundertaus-
stellung der französischen Malerei möglich, die dieses mächtige Kapitel wie-
der neu liest. Im hohen Genuß der Selbstverständlichkeit dieser Bilder, vor
deren Angesicht die theoretische Skepsis gegen Impressionismus, selbstzweck-
liche Malqualität oder wie man das Phänomen benennen mag, verstummen
muß, erhebt sich doch eine geheime Angst, die solcher entdeckerischen Re-
vision Notwendigkeit fühlt. Sich weiden an Kunstschätzen ist die spezifisch
ästhetische Form von Hybris. Unser Verhältnis gerade zu den großen Fran-
zosen des neunzehnten Jahrhunderts ist allzu bürgerlich geworden. Die gleich-
zeitigen Deutschen von Runge bis Corinth sind umkämpft, — der Franzosen
sind wir so unheimlich gewiß, unheimlich, weil kein Sträuben gegen diese
Selbstverständlichkeit ihrer Werte helfen will. Wir sind im Banne dieses Kapi-
tals, und zwar vielleicht gerade deshalb, weil es uns zu wenig in bar gegen-
wärtig gewesen ist in den letzten Jahren, zu sehr rein nominell. Die fran-
zösische Malerei neu zu entdecken, fehlen uns zunächst alle Voraussetzungen;
aber indem uns endlich Gelegenheit gegeben ist, sie wirklich wieder einmal
beisammen zu sehen, als künstlerische Epoche zu rekapitulieren, ist die be-
deutendste dieser Voraussetzungen geschaffen. Und eben darin besteht viel-
leicht der entscheidende Wert dieser seit Dezennien wieder ersten Gesamt-
versichtbarung der Meister von Delacroix bis Picasso, deren Front bei Hugo
Perls in hundert Proben, Gemälden und Zeichnungen, als Kontinuum und als
Einheit des Niveaus dargetan ist, in einer weislich disponierten, nicht durch
Masse noch durch Renommierschlager erdrückenden und desto organischer
wirkenden Ausstellung von, mit nur ganz wenigen Ausnahmen, in Deutsch-
land noch nicht gezeigten Werken.
Der Abschnitt ist nicht willkürlich gegriffen. Bei allen Unterschiedlichkeiten
der hier Versammelten eint sie das Moment der peinture als künstlerischer
Dominante. Zwischen zwei betont formalistischen Phasen erstreckt sich die
Zone des verselbständigten und kultivierten Pigments, vom Klassizismus bis
zum Kubismus, eine Welt, deren Oberbegriffe nicht Linie und Flächenpropor-
tion, sondern Farbe und Geist des Pinsels sind. Das ist nun freilich eine not-
gedrungen sehr allgemeine Formel für die vielgestaltige Entwicklung vom
Historizismus zum Absolutismus in gegenständlicher Hinsicht, ein nur zu
summarisches Gesamtkriterium, das aber doch die besondere Leistung jener
Zeit definiert. Von Delacroix bis Picasso — das ist eine volle Schrauben-
windung, eine Bewegung, die sich wölbt und schließt. Mit van Gogh wäre die
Kurve offen geblieben, unvermündet. Wie all die gelösten Kräfte zuletzt sich
verbinden, fremdartig und doch sichtlich von mächtiger Tradition regiert, ver-
schmelzen zu jenen Frühwerken des Picasso, das entspricht dem Gefüge des
Säkularbaus der großen französischen Malerei und der lebendigen Zirkulation
der künstlerischen Kräfte und Gedanken darin.
Die Ausstellung tritt keineswegs mit besonderen Ambitionen auf, gibt sich
keinerlei museales Ansehen, erhebt keinen repräsentativen Anspruch nach
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Ausstellung bei Hugo Perls in Berlin
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln Von WILLI WOLFRADT
EINE Epoche wird rekapituliert. Ihre Werte sind uns vertraut, bewußt, sind
immer noch Grundlage unserer künstlerischen Begriffe, kaum erschüttert
durch all die revolutionären Vorgänge moderner Formentwicklung. Vielleicht
wäre heute doch bereits jene erstaunliche, entdeckerische Jahrhundertaus-
stellung der französischen Malerei möglich, die dieses mächtige Kapitel wie-
der neu liest. Im hohen Genuß der Selbstverständlichkeit dieser Bilder, vor
deren Angesicht die theoretische Skepsis gegen Impressionismus, selbstzweck-
liche Malqualität oder wie man das Phänomen benennen mag, verstummen
muß, erhebt sich doch eine geheime Angst, die solcher entdeckerischen Re-
vision Notwendigkeit fühlt. Sich weiden an Kunstschätzen ist die spezifisch
ästhetische Form von Hybris. Unser Verhältnis gerade zu den großen Fran-
zosen des neunzehnten Jahrhunderts ist allzu bürgerlich geworden. Die gleich-
zeitigen Deutschen von Runge bis Corinth sind umkämpft, — der Franzosen
sind wir so unheimlich gewiß, unheimlich, weil kein Sträuben gegen diese
Selbstverständlichkeit ihrer Werte helfen will. Wir sind im Banne dieses Kapi-
tals, und zwar vielleicht gerade deshalb, weil es uns zu wenig in bar gegen-
wärtig gewesen ist in den letzten Jahren, zu sehr rein nominell. Die fran-
zösische Malerei neu zu entdecken, fehlen uns zunächst alle Voraussetzungen;
aber indem uns endlich Gelegenheit gegeben ist, sie wirklich wieder einmal
beisammen zu sehen, als künstlerische Epoche zu rekapitulieren, ist die be-
deutendste dieser Voraussetzungen geschaffen. Und eben darin besteht viel-
leicht der entscheidende Wert dieser seit Dezennien wieder ersten Gesamt-
versichtbarung der Meister von Delacroix bis Picasso, deren Front bei Hugo
Perls in hundert Proben, Gemälden und Zeichnungen, als Kontinuum und als
Einheit des Niveaus dargetan ist, in einer weislich disponierten, nicht durch
Masse noch durch Renommierschlager erdrückenden und desto organischer
wirkenden Ausstellung von, mit nur ganz wenigen Ausnahmen, in Deutsch-
land noch nicht gezeigten Werken.
Der Abschnitt ist nicht willkürlich gegriffen. Bei allen Unterschiedlichkeiten
der hier Versammelten eint sie das Moment der peinture als künstlerischer
Dominante. Zwischen zwei betont formalistischen Phasen erstreckt sich die
Zone des verselbständigten und kultivierten Pigments, vom Klassizismus bis
zum Kubismus, eine Welt, deren Oberbegriffe nicht Linie und Flächenpropor-
tion, sondern Farbe und Geist des Pinsels sind. Das ist nun freilich eine not-
gedrungen sehr allgemeine Formel für die vielgestaltige Entwicklung vom
Historizismus zum Absolutismus in gegenständlicher Hinsicht, ein nur zu
summarisches Gesamtkriterium, das aber doch die besondere Leistung jener
Zeit definiert. Von Delacroix bis Picasso — das ist eine volle Schrauben-
windung, eine Bewegung, die sich wölbt und schließt. Mit van Gogh wäre die
Kurve offen geblieben, unvermündet. Wie all die gelösten Kräfte zuletzt sich
verbinden, fremdartig und doch sichtlich von mächtiger Tradition regiert, ver-
schmelzen zu jenen Frühwerken des Picasso, das entspricht dem Gefüge des
Säkularbaus der großen französischen Malerei und der lebendigen Zirkulation
der künstlerischen Kräfte und Gedanken darin.
Die Ausstellung tritt keineswegs mit besonderen Ambitionen auf, gibt sich
keinerlei museales Ansehen, erhebt keinen repräsentativen Anspruch nach
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