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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 17.1925

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Heft 13
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Kandinsky, Wassily: Abstrakte Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.42040#0671

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Von W. KANDINSKY / Mit
io Abbildungen auf 5 Tafeln

Abstrakte Kunst

D ER heutige Tag kann schematisch durch folgende Erscheinungen gekenn-
zeichnet werden:
1. Verschiebungen der materiellen Erscheinungen und Tatsachen, was
— als oberflächliche Bewegung — fortwährend der Beobachtung ausge-
setzt ist.
2. Verschiebungen der geistigen Erscheinungen und Tatsachen, die
teils vollkommen klar mit den ersteren, teils undeutlich mit ihnen ver-
bunden sind, was — als in den Tiefen vor sich gehende Bewegung —heute
nur selten und an vereinzelten Phänomenen beobachtet werden kann.
3. Mit den beiden erwähnten Vorgängen verbundene langsam, ganz besonders
langsam vor sich gehende Verschiebung des Wertungsstandpunktes, die
Umwertung, die das Äußere sehr langsam verläßt und sich dem Inneren
sehr langsam zuwendet.
Dieser Vorgang, der sich erst in ganz vereinzelten Fällen der Beobachtung
aussetzt, ist der natürliche Vorgänger einer der größten geistigen Epochen,
die unter anderem — was speziell in bezug auf abstrakte Kunst von entschei-
dender Wichtigkeit ist — die Hauptbasis vom Materiellen in das Geistige ver-
pflanzt, wobei aber das Materielle die ihm gebührende Bedeutung behält.
Wenn sich die Kunst nicht als lediglich praktisch-zweckmäßige Angelegenheit
einerseits und nicht als nur in der Luft schwebende l’art pour l’art anderer-,
seits entwickelt, so werden ihre Beziehungen und Zusammenhänge mit an-
deren geistigen Gebieten und endlich mit der Gesamtheit des „Lebens“ im
allgemeinsten Sinne voll in Kraft treten. Die Kunst wird dann als leben-
schöpferische Kraft mit so einer Klarheit einwirken, daß die heutigen Zweifel
über ihre Bedeutung und Berechtigung als Resultat einer rätselhaften Ver-
blendung vorkommen werden.
Es ist sehr möglich, daß unter verschiedenen heutigen Vorgängen auch
ein spezieller Fall sich gerade jetzt abspielt — eine Verschiebung des Kunst-
zentrums, die im letzten Grunde den Übergang vom romanischen zum
slawischen Prinzip bedeutet — vom Westen zum Osten.
Die innere Wertung, der relative Wert des Äußeren, das nur im Inneren
seine Wertung findet, ist die Basis der russischen „Bauerngerichte“, die sich
frei, ohne westeuropäische Beeinflussung (das römische Recht) entwickelt
haben, und die sich trotz der westeuropäischen Beeinflussung auch im Ge-
schworenengericht der gebildeten russischen Schichten bis zur Revolution be-
haupteten und weiter entwickelten L
Hier wurzelt der immer tiefer gehende Bruch in den Kunstbewegungen
einerseits der romanischen, andererseits der slawischen und germanischen
Tendenzen, in welcher Beziehung heute der maßgebende Tag ist.
Hier ist der Anfang der abstrakten Kunst, für deren Existenzberechtigung
außer der äußeren Formfrage (wie man es vorwiegend im „Konstruktivismus“
sieht) die innere Wertung der Kunstelemente unbedingt notwen-
dig ist.
Diese Behauptung ist entscheidend: Die Unmöglichkeit, die geistige Un-
fähigkeit ihr zu folgen, schließen das Überschwingen in die neue Welt aus.
1 Diese Basis habe ich vor vielen Jahren bei Untersuchungen der russischen Bauern-
gerichte zu meinem großen Erstaunen beobachtet und ihre oft geheime Wirkung später
in verschiedenen Erscheinungen des russischen Lebens wiedergefunden. Die großö
Wirkung Dostojewskys in Westeuropa muß ich auch auf diese Basis zurückführen.
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