Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 17.1925
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https://doi.org/10.11588/diglit.42040#1207
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Heft 24
DOI article:Kühn, Herbert: Die Bedeutung der prähistorischen und ethnographischen Kunst für die Kunstgeschichte
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die aufnimmt ohne selbst umzugestalten bei einer im wesentlichen konsumtiv
gerichteten Wirtschaft.
Ganz anders wird die Wirtschaft im Neolithikum, in der Bronzezeit und
ersten Eisenzeit. Der Mensch hat ganz allmählich begonnen, Neues zu schaf-
fen, zu produzieren, das Naturgegebene umzugestalten, seine eigenen Formen
der Umwelt aufzuerlegen: die mehr produktiv gerichtete Wirtschaft ist ent-
standen, in der Gefäße geformt, Ackerbau getrieben, Häuser gebaut werden.
Der Mensch ist seßhaft geworden.
Das geistige Leben ist gewandelt, der Mensch ist tief religiös gerichtet,
Totenkult beherrscht die Zeit, Mystik und Animismus. Die Kunst ist ganz
stilisiert, imaginativ geworden, das im Geiste umgeformte Bild, das Geo-
metrische, das Gesetzmäßige steht voran. Man kann so sprechen von einem
produktiven Stil, der im Gegensatz steht zu dem einfachen aufnehmenden, dem
konsumtiven.
Nach seinem Abklingen wieder der sensorisch-konsumtive Stil und wieder
lassen sich die Notwendigkeiten des Wandels erweisen an der Wirtschaftsform
und an der Form des Denkens. Es liegt hier nicht in meiner Aufgabe, diese
Fragen zu verfolgen, die Priorität eines der Faktoren oder die Korrelation zu
untersuchen, wichtig ist nicht die Lösung, sondern die Stellung der Fragen
und die Aufzeigung des Weges zu ihrer Lösung.
Alle diese Probleme sind nicht zu lösen ohne die Kenntnis der prähisto-1
rischen Kunst, ohne die Kenntnis der Anfänge der Kunst.
Die mittelalterliche Kunst ist nicht zu verstehen ohne die vorgeschichtliche
Kunst, aus der sie folgerichtig herauswächst, die Probleme der Stilzusammen-
hänge und dann die Probleme der Notwendigkeit des Stilwandels können
von der prähistorischen Kunstforschung aus die stärkste Förderung erfahren.
Die Forschung der vorgeschichtlichen Kunst wird für die kommende Kunst-
geschichte von grundlegender Bedeutung sein, denn sie wird lehren, die Kunst-
geschichte nicht als eine Summe vieler Einzelheiten zu sehen, sondern als
eine Ganzheit, deren sämtliche Glieder von gleicher Bedeutung sind.
* *
*
Anmerkung der S chriftleitung. Der obige Beitrag wurde — stark gekürzt —
dem neuen „Jahrbuch für prähistorische und ethnographische Kunst“ ent-
nommen (Ipek, Bd. IV, Verlag Klinkhardt & Biermann, Leipzig), in dem der Heraus-
geber, Dr. Herbert Kühn, einleitend die Aufgaben der prähistorischen und ethnographi-
schen Forschung für die Kunstgeschichte noch etwas eingehender als in dem hier mit-
geteilten Abschnitt entwickelt. Das neue Jahrbuch ist unter Anteilnahme sämtlicher
führenden Gelehrten in Europa und Amerika geworden und vereinigt reich durch Tafeln
illustrierte Beiträge in den vier führenden Weltsprachen. Es bedeutet daher auf einem
neuen Gebiet der Kunstgeschichte ein Dokument internationaler wissenschaftlicher Ge-
meinsamkeit, das man nach der jahrelangen Isolierung Deutschlands doppelt freudig
begrüßen darf.
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gerichteten Wirtschaft.
Ganz anders wird die Wirtschaft im Neolithikum, in der Bronzezeit und
ersten Eisenzeit. Der Mensch hat ganz allmählich begonnen, Neues zu schaf-
fen, zu produzieren, das Naturgegebene umzugestalten, seine eigenen Formen
der Umwelt aufzuerlegen: die mehr produktiv gerichtete Wirtschaft ist ent-
standen, in der Gefäße geformt, Ackerbau getrieben, Häuser gebaut werden.
Der Mensch ist seßhaft geworden.
Das geistige Leben ist gewandelt, der Mensch ist tief religiös gerichtet,
Totenkult beherrscht die Zeit, Mystik und Animismus. Die Kunst ist ganz
stilisiert, imaginativ geworden, das im Geiste umgeformte Bild, das Geo-
metrische, das Gesetzmäßige steht voran. Man kann so sprechen von einem
produktiven Stil, der im Gegensatz steht zu dem einfachen aufnehmenden, dem
konsumtiven.
Nach seinem Abklingen wieder der sensorisch-konsumtive Stil und wieder
lassen sich die Notwendigkeiten des Wandels erweisen an der Wirtschaftsform
und an der Form des Denkens. Es liegt hier nicht in meiner Aufgabe, diese
Fragen zu verfolgen, die Priorität eines der Faktoren oder die Korrelation zu
untersuchen, wichtig ist nicht die Lösung, sondern die Stellung der Fragen
und die Aufzeigung des Weges zu ihrer Lösung.
Alle diese Probleme sind nicht zu lösen ohne die Kenntnis der prähisto-1
rischen Kunst, ohne die Kenntnis der Anfänge der Kunst.
Die mittelalterliche Kunst ist nicht zu verstehen ohne die vorgeschichtliche
Kunst, aus der sie folgerichtig herauswächst, die Probleme der Stilzusammen-
hänge und dann die Probleme der Notwendigkeit des Stilwandels können
von der prähistorischen Kunstforschung aus die stärkste Förderung erfahren.
Die Forschung der vorgeschichtlichen Kunst wird für die kommende Kunst-
geschichte von grundlegender Bedeutung sein, denn sie wird lehren, die Kunst-
geschichte nicht als eine Summe vieler Einzelheiten zu sehen, sondern als
eine Ganzheit, deren sämtliche Glieder von gleicher Bedeutung sind.
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Anmerkung der S chriftleitung. Der obige Beitrag wurde — stark gekürzt —
dem neuen „Jahrbuch für prähistorische und ethnographische Kunst“ ent-
nommen (Ipek, Bd. IV, Verlag Klinkhardt & Biermann, Leipzig), in dem der Heraus-
geber, Dr. Herbert Kühn, einleitend die Aufgaben der prähistorischen und ethnographi-
schen Forschung für die Kunstgeschichte noch etwas eingehender als in dem hier mit-
geteilten Abschnitt entwickelt. Das neue Jahrbuch ist unter Anteilnahme sämtlicher
führenden Gelehrten in Europa und Amerika geworden und vereinigt reich durch Tafeln
illustrierte Beiträge in den vier führenden Weltsprachen. Es bedeutet daher auf einem
neuen Gebiet der Kunstgeschichte ein Dokument internationaler wissenschaftlicher Ge-
meinsamkeit, das man nach der jahrelangen Isolierung Deutschlands doppelt freudig
begrüßen darf.
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