Tradition 2tnd Pietät
professor
hofkmann
»silbekner
leuchter «
es, gegen die sich in solchen Zeiten das Junge
mit all seiner Kraft wendet; vor ihren Wirkungen
vermag es sich nicht anders zu retten, als in-
dem es alles fertig Überkommene erst einmal
in Bausch und Bogen über Bord wirft, um kraft
eigenen Erlebnisses den Ausgangspunkt über-
winden zu können; auf diesem Wege werden
die abgebrauchten, unfruchtbar gewordenen
Kunstbegriffe durch neue, den aktuellen An-
forderungen angepaßte, für die weitere Ent-
wicklung wieder tragfähige ersetzt und die
scheinbar unterbrochene Kontinuität der Ent-
wicklung wiederhergestellt.
Daß dann solch strenger Auswahl der nach
der Zukunft weisenden Kräfte auch ein so gänz-
lich der Vergangenheit zugewendeter Wertungs-
akt wie die Pietät zum Opfer fällt, kann nicht
weiter Wunder nehmen. Bedeutet doch Pietät
eine Wertschätzung auf Grund von Vorzügen,
die nicht unmittelbar im Werke selbst zum
Ausdrucke kommen, sondern erst durch Refle-
xion, sei es auf das Ethos seines Schöpfers, sei
es auf seine Stellung im großen Zusammenhange
der Kunstenwicklung, bewußt werden. Und da
die Pietät ähnlich der wahren Tradition eine
Art gesunden Beharrungsvermögens darstellt,
kontrastiert sie auch schärfstens gegen das
Tempo, das in solchen Zeiten die Kunstentwick-
lung zeigt; denn nicht Eruptivität ist Sache dieser
Wertung, sondern stille, werktätige, gläubige
Liebe, die den geheimsten Wegen des Genius
nachspürt und sein Zeichen auch in jenen seiner
Werke bloßzulegen unternimmt, die im übrigen
am Vergänglichen teilhaben. Für den geschicht-
lich abwägenden Kunstbetrachter aber sind
gerade die schwächeren Werke eines Meisters
oft von der größten Wichtigkeit, weil sie das
Werden des Künstlers blitzartig beleuchten und
die scheinbar oft so plötzlichen Ausbrüche des
Genies erst in ihrer tief menschlichen Begrün-
dung verstehen lassen.
Daß die zukunftsfrohen Zeiten, die an der
Vergangenheit leiden, für Tradition und Pietät
als wesentlich rückgewendete Wertungsakte
nichts übrig haben, ist nur zu begreiflich; ist
aber die Zukunft einmal gesichert, kommen
mit der Vergangenheit immer wieder auch sie
zu Ehren..........dr. Hermann haas—präg.
XXX, Oktober 192«. 8
professor
hofkmann
»silbekner
leuchter «
es, gegen die sich in solchen Zeiten das Junge
mit all seiner Kraft wendet; vor ihren Wirkungen
vermag es sich nicht anders zu retten, als in-
dem es alles fertig Überkommene erst einmal
in Bausch und Bogen über Bord wirft, um kraft
eigenen Erlebnisses den Ausgangspunkt über-
winden zu können; auf diesem Wege werden
die abgebrauchten, unfruchtbar gewordenen
Kunstbegriffe durch neue, den aktuellen An-
forderungen angepaßte, für die weitere Ent-
wicklung wieder tragfähige ersetzt und die
scheinbar unterbrochene Kontinuität der Ent-
wicklung wiederhergestellt.
Daß dann solch strenger Auswahl der nach
der Zukunft weisenden Kräfte auch ein so gänz-
lich der Vergangenheit zugewendeter Wertungs-
akt wie die Pietät zum Opfer fällt, kann nicht
weiter Wunder nehmen. Bedeutet doch Pietät
eine Wertschätzung auf Grund von Vorzügen,
die nicht unmittelbar im Werke selbst zum
Ausdrucke kommen, sondern erst durch Refle-
xion, sei es auf das Ethos seines Schöpfers, sei
es auf seine Stellung im großen Zusammenhange
der Kunstenwicklung, bewußt werden. Und da
die Pietät ähnlich der wahren Tradition eine
Art gesunden Beharrungsvermögens darstellt,
kontrastiert sie auch schärfstens gegen das
Tempo, das in solchen Zeiten die Kunstentwick-
lung zeigt; denn nicht Eruptivität ist Sache dieser
Wertung, sondern stille, werktätige, gläubige
Liebe, die den geheimsten Wegen des Genius
nachspürt und sein Zeichen auch in jenen seiner
Werke bloßzulegen unternimmt, die im übrigen
am Vergänglichen teilhaben. Für den geschicht-
lich abwägenden Kunstbetrachter aber sind
gerade die schwächeren Werke eines Meisters
oft von der größten Wichtigkeit, weil sie das
Werden des Künstlers blitzartig beleuchten und
die scheinbar oft so plötzlichen Ausbrüche des
Genies erst in ihrer tief menschlichen Begrün-
dung verstehen lassen.
Daß die zukunftsfrohen Zeiten, die an der
Vergangenheit leiden, für Tradition und Pietät
als wesentlich rückgewendete Wertungsakte
nichts übrig haben, ist nur zu begreiflich; ist
aber die Zukunft einmal gesichert, kommen
mit der Vergangenheit immer wieder auch sie
zu Ehren..........dr. Hermann haas—präg.
XXX, Oktober 192«. 8