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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Geron, Heinrich: Erziehung zur Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0253

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ERZIEHUNG ZUR KUNST

VON HEINRICH GERON

Im Zeichen der Zivilisation wird an keine Macht
so ernsthaft und ehrfürchtig geglaubt als an
die der Erziehung; die relative Formbarkeit des
empirisch abgegrenzten, individualistisch be-
stimmten Einzelmenschen gegen ein allgemeines
absolutes Menschenideal hin wird unbedingt für
leistbar erachtet. Da nun überall im Kultur-
leben gleichzeitig der Kunst ein hoher imma-
nenter Rang als menschenbildende Kraft, also
eine natürliche Eigenschaft als Erzieherin zuer-
kannt wird, ist es selbstverständlich, daß Kunst
und Erziehung in bewußte Verknüpfungen ein-
treten. Zentraler Fall: es wird mittels der
Kunst zum Verständnis der Erzieherin Kunst
erzogen, der Sinn für das gezeugte Schöne wird
gezüchtet, die Empfängnisfähigkeit des Men-
schen für das Schöpferische wird gehegt und
gepflegt. Grundlegende Absicht: die Ausrüstung
des Zöglings zum Verständnis und zur Liebe
der Kunst als einer der wichtigsten Quellen für
Lebenswerte und Daseinsgehalte, die ihn, un-
auflöslich vermittelt, in der Welt fördern, ihm
helfen und ihn speisen werden.

In jedem Menschen steckt, offen oder ins-
geheim, ein Stück Künstler. Bei einer verschwin-
denden Minderheit von Individuen ist dieses
Stück Künstler stark, aktiv, dominant, gebe-
gierig; bei der weit überwiegenden Mehrheit
erweist es sich als beigeordnet, stützbedürftig,
passiv, empfangswillig. Durch es lebt die Kunst
sich in der Welt wirksam aus, dank ihm hat die
Kunst ihre menschheitliche Bedeutung gesichert.
Dieses Stück Künstler ist es, an das sich die
Erziehung zur Kunst richtet und hält. Man fragt
sich, wie es aussieht. In den meisten Fällen
nicht ganz ungeformt, denn eingeborener Schön-
heitssinn, spielerischer Drang zu erfassen, alt-
kluges sterngeschenktes Wissen, unerklärliche
Urfreude an der Harmonie sind bei Vielen schon
von Haus aus wach. Und dort, wo ihr Bewußt-
sein schlummert, können sie wie Schätze ge-
hoben werden. Auf alle Fälle aber ist Erzieh-
ung not, Lauschen ins Wachstum, gärtnerische
Bemühung um Keim und Trieb. Da, wo schon
Etwas ist, werde behutsam gestützt und ge-
schützt, dort, wo dieses Etwas keimen sollte,
werde liebend betreut.

Da es sich in der Erziehung zur Kunst darum
handelt, den Menschen mit der Verständnis-
und Erlebnisfähigkeit auszustatten, ist es wichtig
einzusehen, daß echtes Verständnis und wahres
Erlebnis sich nicht äußerlich herantragen und

betreiben lassen. Die rationellen Richtlinien
derSachkunde und der Vermittlung des wissens-
werten Bildungsstoffs sollen gewiß zu Recht be-
stehen, solange der bildsame Geist der Künste
durch sie nicht zerschnitten und viviseziert wird.
Bekanntlich kann man alle Versmaße kennen
und nie von einem Gedicht ergriffen werden,
die Harmonielehre bis in Tüttel beherrschen
und doch ein zuinnerst unmusischer Geselle sein.
Es ist mit aller Erziehung in den nichtexakten
Wissenschaften wie mit dem Geschichtsunter-
richt. Die absolute exakte Mathematik hat man,
wenn man versteht; Geschichte hat man erst,
wenn man lebendig begreift. Es ist gewiß be-
langvoll, Tatsachen und Daten zu lehren und
zu lernen, aber sie sind nur Mittel und Anlaß,
damit durch sie der zeugende Sinn, der positive
Geist der Geschichte demonstriert wird. So-
lange nicht der Impuls lebt und überspringt, die
Begeisterung und der Ernst für das tathaft und
große Menschentum der abgelebten Zeiten, so-
lange ist Geschichte tot, Fachgesimpel und
Stümperei. So wird auch die Erziehung zur
Kunst eine Lehrform erheischen, die den Im-
puls über die Vernunft stellt, oder praktisch
gesprochen: sie muß eine Art begeisterten An-
schauungsunterrichts sein.

Man darf sich die Ziele und Erreichbarkeiten
eines angemessenen Vorgehens in dieser Rich-
tung wohl vergegenwärtigen. Zweifellos läßt
sich jedem etwas geben, dem einen weniger,
dem anderen mehr. Prinzipiell ist kein Einzel-
wesen zur Dumpfheit vor schöpferischem Ver-
halten, zur Unfähigkeit zu erleben verdammt;
jeder hat das Anrecht auf die Gnade, ganz wie
in der Religion, wenn wir auch, solange das
Tausendjährige Reich nicht angebrochen ist, uns
mit relativen Vollbringungen und Auswirkungen
gegen den Idealzustand hin begnügen müssen.
Wenn das religiöse Leben einer Allgemeinheit
gestaltet wird, so ist es für die, die ein religiöses
Amt haben, begünstigend und gut. Nicht anders
hier, wo das künstlerische Leben gestaltet wer-
den soll: auch wenn es sich nicht darum handelt,
den tätigen Künstler zu züchten, sondern den
kunstempfänglichen Menschen auszubilden, so
wird doch gerade hierdurch die Kunst und wer-
den die Täter und Schaffer in ihrem Reich vital
gefördert. Aber die Absicht gilt immer dem
künstlerisch lebendigen Menschen, der künst-
lerisch lebendigen Allgemeinheit, der Gemein-
schaft, der Nation, die wie die Griechen, das
 
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