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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Breuer, Robert: Der Geheimschlüssel des Augenblicks
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0125

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DER GEHEIMSCHLÜSSEL DES AUGENBLICKS

VON ROBERT BREUER

Der Sinn des Lebens ist die Sekunde. Leben
ist Bewegung; alle Bewegung hat einen
Höhepunkt. Ihn zu erreichen ist der Zweck der
Bewegung. Ihn zu sehen und mit dem Auge
wie mit einer blitzhaft zupackenden Zange fest-
zuhalten, heißt die Bewegung verstehen, heißt
ihre ganze Wucht empfangen, heißt den Weg,
den sie durchmachte, in rasender Folge noch
einmal zu wiederholen, heißt ein Stück Leben
an sich reißen.

Man sieht einen Läufer im schnellsten Tempo
daherkommen. Man ist interessiert, aber nicht
überwunden; man bewundert, aber man hatnoch
nicht das Erlebnis. Plötzlich, vielleicht nahe
dem Ziel, vielleicht noch weit davon, erfassen
wir eine seiner Bewegungen, ein Schmeißen
der Beine, ein Zurückwerfen des Hauptes, ein
Auffliegen des Mundes, als wäre er ein Ventil,
die Explosion des extatischen Körpers zu ver-
hüten. Diese eine von Millionen Bewegungen
schlägt in den Zuschauer hinein, wie ein Ge-
schoß, wie ein Herzschuß. Nun erst sieht er
den Lauf; in einer Sekunde erfaßt er alles, was
bisher in dämmernder Eindruckslosigkeit und
als mechanischer Prozeß sich vollzog. Dieser

eine erhaschte Augenblick, dieser eine glückliche
Blick des Auges wird dem Zuschauer zu einer
Hieroglyphe des Laufens, zum Kraftstenogramm
und zur Wesensprojektion des Läufers. Von
da an und unvergänglich sieht der Zuschauer
den Läufer im Bilde jenes Augenblicks.

Man hört einen Redner, seine Worte schwim-
men am äußeren Ohr vorbei. Man hat Mühe,
aufmerksam zu bleiben. Man braucht An-
strengung, ihm zu folgen. Die seelische Brücke
zwischen Redner und Zuhörer fehlt. Unerwartet
macht der Redner eine Handbewegung, und
der Zuhörer fühlt sein Herz ergriffen und ge-
öffnet. Diese Bewegung der Hand währte nicht
länger als eine Sekunde, sie war das Sinnlich-
werden, das Sichtbarwerden der äußersten
gedanklichen Konzentration. Sie preßte und
prägte den Gedanken; sie war mit ihrer kleinen
Drehung formgewordene Energie.

Die Kunst des Malers besteht im Festhalten
des produktiven Augenblicks. Der Instinkt des
Photographen ist nichts anderes. Wer erinnert
sich nicht der furchtbaren Hand des Teils, den
Ferdinand Hodler malte. Sie hat soeben einen
Mord begangen, indem sie die Sehne der töd-

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