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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Michel, Willhelm: Die Vieldeutigkeit des Kunstwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0381

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DIE VIELDEUTIGKEIT DES KUNSTWERKS

Kunstwerke haben eine kostbare Eigenschaft,
die sie in hervorragender Weise dazu be-
fähigt, Haus-und Lebensgenossen des Menschen
zu sein: ihre Vieldeutigkeit. Sie sprechen nicht
nur eine einzige Stimmung aus, um sich jeder
andern zu widersetzen. Sie passen sich viel-
mehr musikalisch den wechselnden Gemütslagen
und Geisteszuständen des Menschen an. Zwar
überschreiten sie dabei nicht ein eigenes, ihnen
durch den besonderen Charakter gesetztes Maß.
Aber weitgehend schwingen sie innerhalb dieser
Grenze mit den Takten der Menschenseele mit.
Sie geben Antwort auf eine frische, tätige Stim-
mung, aber sie begleiten auch Stunden der Ver-
sonnenheit mit sympathetischem Verständnis.
Die Bilder sind nicht eindeutig; sie haben gleich-
sam eine weite Weisheit und tiefe Herzens-
kenntnis; sie verstehen den Menschen in allen
seinen seelischen Bewegungen. Das ist ein Zug,
den sie mit den Naturdingen gemeinsam haben.
Und in dieser geheimen Verschwisterung mit
derMenschenseele liegt die fördernde, steigernde

oder tröstende Kraft der Kunst wie der Natur
begründet. Die Kunst weiß vom Menschen.
Sie weiß viel mehr von ihm, als sie im ersten
Augenblick ausspricht. Je größer ein Kunst-
werk ist, desto höher, desto ausgebreiteter ist
auch dieses sein stilles „Wissen" vom Menschen.
Langsam und vorsichtig, als fürstliche Freunde
und wundervolle Geliebte, geben sie ihr Wissen
im Verkehr mit dem Menschen kund. Sie adeln
jede Stunde, in der man sie mit frischen Sinnen
erblickt, und immer wissen sie genau das rechte
Wort, um uns im Sinne unsres eigenen Zieles

zu mahnen oder zu erfreuen......... w. m.



Sehen wir, während unseres Lebensganges,
dasjenige von andern geleistet, wozu wir
selbst früher einen Beruf fühlten, ihn aber mit
manchem andern aufgeben mußten, dann tritt
das schöne Gefühl ein, daß die Menschheit zu-
sammen erst der wahre Mensch ist, und daß
der einzelne nur glücklich sein kann, wenn er
den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen, goethe.
 
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