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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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F. N.: Einfühlung in fremde Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0082

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PROFESSOR JOSEF HOFFMANN

»LEDERBAND FÜR PHOTOS«

EINFÜHLUNG IN FREMDE KUNST

Oft, wenn in den letzten Jahren fremde, be-
sonders exotische Kunst in unsern Gei-
stesbereich eindrang, stand mir Goethes Urteil
über exotische Baukunst vor Augen: er be-
zeichnete ihre Gebilde als „Fratzen". Er lehnte
sie ab. Sie waren ihm für das eigentliche künst-
lerische Erleben unergiebig. Ich habe immer
gedacht, es müsse in diesem Urteil etwas Wahres
liegen. Aber dann kam der moderne Relativis-
mus und zeigte, daß diese fremden Formen für
ihren Kulturkreis genau dieselben Funktionen
erfüllen wie hohe klassische Formen für den
unsrigen. Und so hielt man sich für verpflichtet,
sich mit historizistischer Ironie in diese fremden
Formen einzufühlen; es gab für uns keinen Ur-
teilsmaßstab mehr, der uns berechtigt hätte, sie
abzulehnen. Wir öffneten uns grenzenlos nicht
nur der vergangenen, sondern auch der geistes-
fremden Kunst. Alles stand uns zu Gebote,
alles war uns nicht nur von außen, sondern auch
von innen her zugänglich. Wir faßten uns selbst,
da ja unsere Einsicht freizügig war wie die Wolken
am Himmel, als ungebundene, unfixierte Ge-
schöpfe auf, die alles verstehen können; und
so drang die ganze uferlose Masse des in der
Kunst Geleisteten nacheinander auf uns ein und
überschüttete uns mit einer Unzahl wechselnder
Reizungen. Nicht nur Kunstweisen und -formen,
sondern auch Religionen und Weltanschauungen
fluteten aus entlegensten Bezirken in unsere
Welt ein, wie das Meer in ein von Dämmen

nicht gesichertes Land. Daher der bunte, for-
menreiche Anblick dieser unserer Welt; daher
aber auch das Schwanken in ihr, die Ziellosig-
keit, die Gestaltlosigkeit.

Es ist Zeit, uns darauf zu besinnen, daß wir
trotz alles „Verstehens" für das Fremde eben
doch nur ein einziges wahrhaftes Geistesschicksal
tatsächlich leben; nämlich das unsrige. Das
Einfühlen in fremde Kunst und Seele mag eine
wertvolle Bereicherung unserer Bildung sein.
Aber wahrhaft lebendig stehen wir nur den-
jenigen Kunstformen und Denkweisen gegen-
über, in denen sich das Geistesschicksal der uns
zugehörigen Gemeinschaft verlautbart. Das frei-
zügige Verstehen ist Sache der Einsicht, des
Intellekts; auf dem höchsten Punkte sogar Sache
des zeitlosen, ungeschichtlichen Geistes. Aber
soweit wir lebendige, einmalige, bestimmte Ge-
schöpfe sind, stehen wir unter einem einmaligen,
bestimmten Müssen im Geistigen. Von diesem
Müssen aus erweist sich, daß es Dinge gibt, die
zu uns gehören, und andere, die nicht zu uns
gehören, die sich nie fruchtbar mit unserem Le-
ben amalgamieren, ob wir sie mit dem Intellekt
auch noch so gut „verstehen" und deuten kön-
nen. So ungebunden unser Intellekt sich fühlen
mag: in den tieferen Schichten unseres Wesens
sind wir unentrinnbar gebunden.

Goethes Gefühl ging den rechten Weg: die
fremde Kunstform, die von unserem Inneren
nichts weiß, wirkt als Fratze, weil die Ordnung,
 
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