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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Michel, Wilhelm: Lebenstapferkeit: Eine Ansprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0178

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LEBENSTAPFERKEIT

eine ansprache

A uch in der Kunst, meine verehrten Zuhörer,
/V sind die Wege der Geschicke „unerforsch-
lich". Die Geschichte der Kunst ist eine Welt-
geschichte in nuce. An jedem Punkt mischt sie
das Begreifliche, das Unbegreifliche. IhreMetho-
den sind umwegig, sie verwenden mit gleicher
Gelassenheit das Sinnige wie das Unsinnige,
sie wirken Geschehen mit allen Werkzeugen.
Daß der Mensch hie und da etwas von diesen
Methoden mit dem Verstand begreift, ist ein
erwünschter Glücksfall; aber er begründet kei-
neswegs den Anspruch, daß das Ganze dieser
Methoden für den Verstand faßbar sein müsse.

Ein Beispiel. In der Weltgeschichte wie in
der Kunstgeschichte tauchen, v n .fei. zu Zeit
uferlose Maximalprogrammc au„ denen all unser
Wissen ablehnend gegenübersteht. Bekennt-
nisse, Strebens-Ziele treten hervor, die mit den
besten Gründen als unsinnig und nie realisier-
bar widerlegt werden können. Wenn Rousseau
das Evangelium „Zurück zur Natur" verkündigt,
wenn der Naturalismus die ganze Fülle des
Seins ins Bild zu bringen strebt, so wird in
beiden Fällen etwas durchaus Illusionistisches
unternommen. Weder kann der Mensch im
modernen Staat die reine Naturordnung ver-
wirklichen, noch kann die Kunst sich ihrer sub-
jektiven Geistigkeit, ja „Widernatürlichkeit"
jemals völlig entschlagen. Aber auf Rousseau
folgt die Auflösung des absolutistischen und
die Begründung des modernen Staates, auf den
Naturalismus folgt die ganze stürmische Ent-
wicklung der neuen Kunst. Die Programme sind
unsinnig, aber sie zeitigen Ergebnisse, die real
sind, die ein wahres Vorwärtsbringen. Dassehen
wir freilich immer erst hintennach: als Mit-
lebende sind wir stets dem Irrationalen ausge-
liefert. Aber selbst diese Erkenntnis liefert uns
noch keinen Stand und Boden. Denn in jedem
Augenblick ist die Kunst voll von Tendenzen
der verschiedensten Art, von denen die
meisten zur Erfolglosigkeit insgeheim verurteilt
sind. Wollte Einer, nachdem er die tatsächliche
Ergiebigkeit des Irrationalen eingesehen hat,
sich nun der nächstbesten neuen Tendenz er-
geben, so könnte es leicht sein, daß er die falsche
wählt und sich alsbald doch wieder neben dem
eigentlichen Geschehen, außerhalb des Stromes
der Entwicklung findet. Es bleibt immer nur

die Notwendigkeit, anzuerkennen, daß Kunst-
entwicklung Kampf ist, Kampf verborgener
Kräfte, deren Werkzeuge wir selbst sind, mit
unseren Leidenschaften und Einsichten. Eben
deshalb aber haben wir unsere Leidenschaften
und Einsichten nicht umsonst. Sie sind in jenem
Kampf unsere Mobilmachungsordre, d. h. sie
weisen uns unsere Partei und unsern Ort zu.
Die Welt des abstrakten Meinens ist uferlos
und ungesichert. Soweit wir bloß abstrakter
Verstand sind, hindert uns nichts, heute die
klassische, morgen die dadaistische, übermorgen
die neureälistische oder die mechanistische
Tendenz für „wahr" zuhalten. Der Verstand an
sich bestimmt nichts; Bestimmung fließt nur aus
unserem inneren Lebenskern, wie er sich kundtut
in dem, was wir lieben und was wir glauben. Durch
unsre Liebe und unsern Glauben treten wir in die
großen Geisteskämpfe der Menschheit ein. Wir
„stehen" irgendwo, wir sind Partei für irgend-
etwas , wir sind Soldaten einer Idee, einer
menschlichen Möglichkeit, eines bestimmten
Strebens. Die Geschicke liefern uns Kampf-
platz und Kampfbedingungen, Sieg und Nieder-
lage. Aber auf den Sieg kann der Fall folgen,
auf die Niederlage der Triumph: die einzige
Verpflichtung des Menschen geht auf Tapfer-
keit und auf ein Leben aus dem Kern seines
Müssens heraus. Wer diese Lebenstapferkeit
und Lebensechtheit bewährt, hat die meiste
Aussicht, daß sich ihm und seiner Sache einmal
die Gunst der Weltstunde zukehrt. Das Fest-
bleiben nicht auf einer vordergründigen und
eilfertigen, sondern auf der endgültigen, vielfach
durchgeprobten Überzeugung ist das einzige
Mittel, die „Hilfe der Götter" herbeizurufen.
Dieses Festbleiben aber ist nirgends anders zu
begründen als auf ein letztes Vertrauen. Ein
Festbleiben solcher tiefen Art ist nur möglich,
wenn der Mensch, nach dem schönen Wort
eines jungen französischen Dichters, begriffen
hat, „que toutes choses sont oü elles doivent
etre et vont oü elles doivent aller: au Heu
assigne par une sagesse qui — le ciel en soit
loue! — n'est paslanötre." Zu deutsch: Daß
alle Dinge sind, wo sie sein müssen, und gehen,
wohin sis gehen müssen: an den Ort, gewiesen
von einer Weisheit, die — der Himmel sei da-
für ^Jobtl — nicht die unsrige ist.....w.m.


 
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