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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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H. R.: Freiheit der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0091

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EMIL LETTRE. >BROSCHE MIT SMARAGD, PERLEN, DIAMANTEN«

FREIHEIT DER KUNST

Kampf um die Freiheit der Kunst! Wie oft
hat er, gerade in den letzten Jahrzehnten,
die Gemüter erregt! Daß die Kunst frei sein
müsse, ist ein Axiom. Frei gegenüber politi-
schen Rücksichten, frei gegenüber engherzigen
Religions- und Moralvorschriften, frei gegenüber
der gesellschaftlichen Konvention, frei schließ-
lich auch gegenüber den Anforderungen des
materiellen Lebens. Diese Forderung leuchtet
heute Allen ein. Sie ist Gemeinplatz geworden;
so sehr, daß es reizt, die Sache auch einmal von
der andern Seite anzusehen.

Kunst soll freie Äußerung eines schaffenden
Subjekts sein; einer freien, einsam dastehen-
den, nirgends beengten Künstlerpersönlichkeit.
Aber was soll man sich denn unter einem Men-
schen vorstellen, der seine Individualität schran-
kenlos auslebt, den keine der genannten Rück-
sichten beengt? Muß er nicht zerflattern, muß
er sich nicht ins Monologische verlieren ? Schran-
ken sind doch nicht bloß Einengungen, sondern
auch Grenzen und Konturen. Sie riegeln nicht
bloß ein, sondern sie geben auch Gestalt und
Umriß, Widerstand und nutzbringende Kompri-
mierung. Schon längst hat man beobachtet, daß
dem Stil der journalistischen Leistung eine ge-
wisse Beschränkung der Pressefreiheit nicht nur
nicht zum Schaden, sondern sogar zum Segen
ist. Und in der Kunst? Haben wir nicht in
einer gewissen Spielart des Expressionismus er-
lebt, welchen Schaden die vollkommene Heraus-
lösung des künstlerischen Subjekts aus allen
Bindungen anrichten kann ? Ist es nicht die heute
„fällige" Wahrheit, daß Freiheit kein Wert an
sich ist, daß des Menschen tiefere Bedürfnisse
vor allem auf eine richtunggebende Ein-
ordnung gehen? Selbst Revolutionen — hat
vorlängst ein guter Kopf herausgefunden — kom-

men nicht aus dem Willen zur Freiheit, sondern
aus dem Willen zu einem neuen Zwang. Und
so bedeuten auch die Kunstrevolutionen ein
Streben nach neuen Bindungen, nicht nach
neuen Entfesselungen.

Aus dieser Einsicht heraus kehrte einmal
Andre Gide das Axiom von der Freiheit der
Kunst geradeswegs um und meinte: „Die Kunst
lebt vom Zwang; sie stirbt an der Freiheit".
Und das heißt: die Kunst lebt von der Einfügung
in eine höhere Ordnung, von der Bezogenheit
auf die umgebende Menschen- und Dingwelt.
Diese Zusammenhänge sind ihr Nährboden;
durch völlige „Freiheit" löst sie sich aus dem,
was sie durch Beengung ernährt. Eideshelfer
dieser Wahrheit sind alle jene großen Kunst-
werke, die mitten aus Zwangslagen heraus ent-
standen sind, nämlich aus der oft sehr robusten
Bindung an religiöse Anschauungen, an Standes-
konventionen und Standesbedürfnisse, an mäch-
tige Zwecke und Auftraggeber, an gesellschaft-
liche Anforderungen.

So sind z. B. selbst die Gesänge eines Pin-
dar, die man Jahrhunderte lang als Erzeugnisse
des freiesten, kühnsten Dichtergeistes ansah,
der Entstehung nach bestellte, auf die Anschau-
ungen der thebanischen Patrizierfamilien zuge-
schnittene Arbeit gewesen.

Es ist gut, dies zu beherzigen, zumal nach
den Erfahrungen, die die moderne Kunst mit
der schrankenlosen Emanzipierung der Künst-
lerpersönlichkeit gemacht hat. Nicht, daß der
Polizeiknüttel engherziger Anschauungen über
der Kunst geschwungen werde, ist der Sinn
dieser Sätze, sondern daß das Vorhandensein
echter, in sich mächtiger und würdiger Lebens-
zusammenhänge und Geisteszwänge ein volles
Leben der Kunst erst ermöglicht. .... h. r.
 
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