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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 59.1926-1927

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Breuer, Robert: Der Geheimschlüssel des Augenblicks
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https://doi.org/10.11588/diglit.9182#0126

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Der Gcheivischlüsscl des Augenblicks

PROF. O. KOKOSCHKA—WIEN

GEMÄLDE »ZWEI KINDER«

liehen Armbrust abschnellen ließ. Von dem
Mord sehen wir nichts. Wir sehen aber in der
vorgestreckten, mit ihrer Fläche sich uns zuwen-
denden Hand das Grauen der Vollstreckung
und das Pathos der Tat. Dieses sekundenhafte
Aufflammen der Hand enthält das geschehene
Drama und den Vulkan des Vollbringers.

Jedermann hat schon erlebt, wie im Gespräch
das Zucken eines Mundwinkels, das Heben einer
Schulter oder das leichte Neigen des Kopfes
verständlich machten, was mit vielen Worten
gesagt wurde; ja oft hat eine unkontrollierte
vorüberhuschende Bewegung verraten, was ver-
schwiegen werden sollte. Wer die Indiskretion
solcher Sekunde nicht zu nutzen vermag, wird nie
die Wahrheit erfahren. Nur, wer die Sekunden-
bewegung eines Antlitzes, eines Körperumrisses,
einer Hand zu sehen, zu bannen, zu gestalten
vermag, gibt den Menschen, dessen Wesent-
liches, dessen Ich. Und umgekehrt: solch eine,
mit dem Pinsel auf der Leinwand, mit der
geschliffenen Linse auf der lichtempfindlichen
Platte festgehaltene Wallung und Oberflächen-
Atmung ist die Bedingung und Voraussetzung
höherer Ähnlichkeit, ist ein Lichtschacht bis
tief hinein in die Seele des Modells. Solch ein
Sekundenbild ist inhaltsreicher und inhalts-
wahrer als jede umfangreiche Biographie. Und
ist auch bequemer und allgemeingültiger zu

lesen. Ein Blick genügt, um aus dem Sekunden-
bild alles Notwendige zu erfahren. Was der
Leser eines Buches erst addieren muß, empfängt
der Beschauer des Bildes als fertige und unter-
strichene Summe dargeboten.

Das gilt für das Leben und die Geschichte
des Einzelnen; das stimmt nicht weniger für die
Daseinsart und die Auswirkung von Massen,
von Ereignissen, von Sitten und Gebräuchen
der Völker und Gattungen, von Abenteuern,
Katastrophen, kurz allem Gesicht habenden
Geschehen. Und es gibt auf dieser Welt nichts,
was nicht dauernd geschieht, nichts, an dem
nicht dauernd etwas geschieht, nichts also, was
nicht in jedem Augenblick Zeitraum gewähren
könnte, den Blick und die schöpferische Hand
ans Ziel, an die Demaskierung des Seins, an die
Bloßlegung der Wahrheit gelangen zu lassen.

Es kommt nur darauf an, den rechten, den
produktiven, den schachtaufreißenden Augen-
blick zu erfassen; das aber ist nicht leicht, ist
nicht Zufall, ist nicht jedermanns Gabe. Oft
genug geraten wir an Bilder, an Gemaltes, Ge-
zeichnetes, Photographiertes, das uns kalt und
unbewegt läßt. Und dann wieder werden wir
von einerDarstellung umgeworfenundin stärkste
Erregung versetzt. Worin besteht das Geheim-
nis der Wirkung? In nichts anderem, als im
Erfassen des rechten Augenblicks.
 
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