johann heinrich bissier
altwasser am sponeck«
Heute weiß jedermann, daß eine Bewegung
sich aus ungezählten Einzelbewegungen zusam-
mensetzt. Kinematographie und Zeitlupe brin-
gen uns das täglich in Erinnerung. Durch die
Zeitlupe, die das Tempo der Bewegung verlang-
samt, erhalten wir Ansichten, die uns ungewohnt
sind, die oft grotesk und nicht selten unwahr-
scheinlich wirken. Zuweilen aber packt uns
eine dieser Zwischenstufen und wird uns zum
Sprungbrett optischen Erkennens. Diese aus-
schlaggebende Zwischenstufe, auch ohne das
mechanische Hilfsmittel der Zeitlupe herauszu-
finden, ist, so darf man annehmen, die geniale
Gabe der überzeugenden Darstellung.
Das Leben ist nicht überall interessant, wo
wir hineingreifen können; es kommt darauf an,
die Gelenkpunkte, die Wendekurven, die Ex-
plosionszellen zu packen. Nicht immer ist die
Vollendung eines Geschehens der Gipfel seiner
Wirksamkeit; oft liegt der Klimax vor dem Aus-
klang. Der Tod ist langweiliger, als die fünf
Minuten davor es sind. Es kann aber auch die
Auslösung einer hingehaltenen Spannung, das
„In die Arme Sinken", ein orchestrales Finale,
alle Schmerzen der Prüfung und alles Glück
des Bestandenhabens noch einmal flüssig und
lebendig werden lassen. Den rechten, sprechen-
den, unüberhörbaren, zuverlässig verständlichen
Augenblick zu finden, das kennzeichnet den
Spürsinn des Bildners.
Nicht jedes Bild ist ein Extrakt des Lebens.
Nur jene sind es, die aus dem Strom der Se-
kunden heraus die eine zu finden wissen, die
den Geheimschlüssel in sich birgt. r. b.
*
Es hieße unsere innere Erfahrung einseitig,
ja geradezu entstellt wiedergeben, wenn
wir sagen wollten, daß unser Verlangen nach
ästhetischer Betätigung lediglich um der zu
hoffenden Lust willen geschehe. Wenn ich in
das Theater gehe, um eine Posse oder Operette
zu sehen, so ist wohl meine Absicht, mich zu
vergnügen. Wenn ich hingegen das Verlangen
habe, einmal die Dresdener Galerie zu besuchen,
wieder einmal Fidelio zu hören, wieder einmal
Hamlet in guter Aufführung zu sehen, so liegt
in mir die Sache so, daß ich nicht etwa um der
zu erwartenden Lust willen, sondern darum
diese Bedürfnisse habe, weil ich mich in wert-
voller Weise betätigen, eine Erhöhung und Aus-
weitung meines Selbstes erlebe, ein Großes und
Hohes in mir erfahren will." Johannes volkelt.
altwasser am sponeck«
Heute weiß jedermann, daß eine Bewegung
sich aus ungezählten Einzelbewegungen zusam-
mensetzt. Kinematographie und Zeitlupe brin-
gen uns das täglich in Erinnerung. Durch die
Zeitlupe, die das Tempo der Bewegung verlang-
samt, erhalten wir Ansichten, die uns ungewohnt
sind, die oft grotesk und nicht selten unwahr-
scheinlich wirken. Zuweilen aber packt uns
eine dieser Zwischenstufen und wird uns zum
Sprungbrett optischen Erkennens. Diese aus-
schlaggebende Zwischenstufe, auch ohne das
mechanische Hilfsmittel der Zeitlupe herauszu-
finden, ist, so darf man annehmen, die geniale
Gabe der überzeugenden Darstellung.
Das Leben ist nicht überall interessant, wo
wir hineingreifen können; es kommt darauf an,
die Gelenkpunkte, die Wendekurven, die Ex-
plosionszellen zu packen. Nicht immer ist die
Vollendung eines Geschehens der Gipfel seiner
Wirksamkeit; oft liegt der Klimax vor dem Aus-
klang. Der Tod ist langweiliger, als die fünf
Minuten davor es sind. Es kann aber auch die
Auslösung einer hingehaltenen Spannung, das
„In die Arme Sinken", ein orchestrales Finale,
alle Schmerzen der Prüfung und alles Glück
des Bestandenhabens noch einmal flüssig und
lebendig werden lassen. Den rechten, sprechen-
den, unüberhörbaren, zuverlässig verständlichen
Augenblick zu finden, das kennzeichnet den
Spürsinn des Bildners.
Nicht jedes Bild ist ein Extrakt des Lebens.
Nur jene sind es, die aus dem Strom der Se-
kunden heraus die eine zu finden wissen, die
den Geheimschlüssel in sich birgt. r. b.
*
Es hieße unsere innere Erfahrung einseitig,
ja geradezu entstellt wiedergeben, wenn
wir sagen wollten, daß unser Verlangen nach
ästhetischer Betätigung lediglich um der zu
hoffenden Lust willen geschehe. Wenn ich in
das Theater gehe, um eine Posse oder Operette
zu sehen, so ist wohl meine Absicht, mich zu
vergnügen. Wenn ich hingegen das Verlangen
habe, einmal die Dresdener Galerie zu besuchen,
wieder einmal Fidelio zu hören, wieder einmal
Hamlet in guter Aufführung zu sehen, so liegt
in mir die Sache so, daß ich nicht etwa um der
zu erwartenden Lust willen, sondern darum
diese Bedürfnisse habe, weil ich mich in wert-
voller Weise betätigen, eine Erhöhung und Aus-
weitung meines Selbstes erlebe, ein Großes und
Hohes in mir erfahren will." Johannes volkelt.