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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 3.1928

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Dogmen
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https://doi.org/10.11588/diglit.13709#0394

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lisclie Kirche wendet sich mit vollem Recht von
ihrem Standpunkte aus dagegen, daß man dieses
Wort zur Kennzeichnung einer willkürlichen Ein-
engung menschlicher Freiheit verwendet. Und
doch wird dieser Gebrauch oder Mißbrauch des
Wortes nicht auszurotten sein, — weil eben alle
diejenigen, die die Voraussetzung der göttlichen
Offenbarung nicht anerkennen, notwendigerweise
im Dogma eine Einengung freien Denkens oder
Handelns erblicken müssen. Nun will freilich der
Verfasser der vorstehenden Erörterungen dem
Mißbrauch des Wortes dadurch begegnen, daß er
die Möglichkeit der Anwendung des Wortes im
strengsten — katholischen — Sinne zu erweitern
sucht. Und darüber ist wohl einiges zu sagen.

Wenn man in der Wissenschaft von Wahrheiten
im Sinne der katholischen Dogmen spricht, so
muß man voraussetzen, daß es auch in der
menschlichen Wissenschaft, nicht nur in der Reli-
gion, so etwas wie eine göttliche Offenbarung gibt.
Diese Annahme ist nicht nur unbeweisbar, sondern
objektiv unmöglich. Es ist ja gerade das Wesen
der Wissenschaft, daß sie aus dem autonomen
menschlichen Geiste entspringt. Und je weiter
sie auf dem Wege der Erforschung der Welt vor-
dringt, desto klarer erkennt sie die Unbeweisbar-
keit und die Relativität aller ihrer „Gesetze". Auch
hinter Sätze, die dem einfachen Geiste unmittelbar
einleuchten, setzt die Wissenschaft ihre Frage-
zeichen : Der Mathematiker Poincare hat einmal
nachgewiesen, daß der Satz ..Zweimal zwei ist vier"
nur gilt unter der Annahme einer ganzen Reihe
von unbeweisbaren Voraussetzungen. Jeder geo-
metrische Salz gilt nur innerhalb des vom mensch-
lichen Geiste ausgedachten Systems, dem er ange-
hört, und wir erleben es täglich fast mit Schaudern,
daß die festeslgefügten physikalischen Regriffc
ihren Inhalt verlieren und durch andere ersetzt
werden. Unter diesen Umständen scheint es mir
ein Mißbrauch zu sein, wenn man Sätze und Ge-
setze, die dem Bereiche menschlicher Wissenschaft
angehören, als „Dogmen" bezeichnet.

Liegt aber nicht ein noch ärgerer Mißbrauch
vor, wenn man von der Möglichkeit dogmatischer
Festsetzungen im Reiche der Kunst spricht? Das
„Gesetz" des „Goldenen Schnitts" — nun ja, man
hört immer wieder' davon reden und weiß nach-
gerade, daß in der Tat dieses oder ein annähernd
ähnliches Verhältnis in vielen Kunstwerken vor-
kommt, und daß dieses Verhältnis eine gewisse
angenehme Wirkung ausübt, — auch wenn es nur
ungefähr stimmt. In zahllosen Fällen ist aber
nicht einmal eine Annäherung an dieses Verhältnis
festzustellen, und die Wirkung mag dann zwar
anders, sie muß aber nicht geringer sein. Es han-
delt sich also kaum um eine „Regel", geschweige
denn um ein allgemein gültiges „Gesetz". Von
einem „Dogma" der „Schönheit" aber wollen wir
doch lieber heute nicht mehr reden! Was aber die
anderen „Dogmen" anlangt, so sind das z. T. nichts
anderes wie Feststellungen bestimmter Gesetz-
mäßigkeiten der Wirkung — wie z. B. bei der
physiologisch begründeten Funktion der Farben —,

oder aber Begriffsdefinitionen, wie z. B. die der
„Symmetrie", über deren ästhetische Bedeutung
ebenso wie bei der Farbenlehre mit der Definition
noch gar nichts ausgesagt ist. Talbeslände dieser
Art gibt es zahllose, und der werdende Künstler
hat sich mit ihnen bekannt zu machen, — aber
was er dann damit erreicht, das hängt nicht von
der Kenntnis der Gesetze, sondern von seiner
schöpferischen Kraft ab.

Diese schöpferische Kraft nun wird zwar für
den Augenblick nicht geleugnet; sie soll aber,
nach dem „phantastischen" Glauben des Verfassers,
in irgendeiner fernen Zukunft abgelöst werden
durch eine wissenschaftliche Erkenntnis, durch die
vollkommene Beherrschung aller Gesetze und For-
meln, die auch den größten Kunstwerken zugrunde
liegen sollen. Und darin allerdings scheint mir
ein Irrtum zu liegen, der verhängnisvoll im
höchsten Grade ist. Es gibt keine „Formel", aus
der die Existenz der „Eroica" oder des Parthenon
abzulesen ist, und wird niemals eine geben! Je
größer ein Kunstwerk ist, desto autonomer ist ihr
inneres Leben, desto mehr ist es der Ausdruck
einer umnitlelbaren seelischen Lebendigkeit, d. h.
ein gewachsener „Organismus", nicht ein zu er-
rechnender „Mechanismus".

Soviel ich von den aufregenden neuen natur-
wissenschaftlichen Erkenntnissen weiß, scheint
mir die Entwicklung gerade umgekehrt zu laufen:
je weiter unsere Forschung vordringt, um so be-
scheidener wird der menschliche Geist, was die
Erkenntnis letzter Lebenszusammenhänge anlangt,
nicht einmal auf dem Gebiete der physikalischen
Chemie vertraut man heute mehr völlig auf das
Gesetz der „Kausalität", d. h. des streng errechen-
baren Zusammenhangs zwischen Ursache und
W irkung. Mit jedem Tage fast dringt man tiefer
in die Schichten der Welt vor, in denen jenes
Gesetz nicht mehr gilt, in denen man mit den
„.Zufälligkeilen" des Lebendigen zu rechnen hat,
die sich höchstens nach dem Prinzip der „Wahr-
scheinlichkeit" ordnen und berechnen lassen. Man
spricht heute schon von dem „Leben" der Metalle
und will damit sagen, daß man nicht vorher mit
Bestimmtheit weiß, wie sie sich in dem oder jenem
Falle verhalten. Die "Welt wird nicht erkennbarer,
erklärbarer mit jedem Fortschritt menschlicher
Forschung, sondern geheimnisvoller. Immer mehr
werden wir uns auf die Schauung dieser Geheim-
nisse beschränken, deren lebendige Einheit aller-
dings durch die Forschung mehr und mehr ent-
hüllt wird.

Also hat Paul Renner doch recht: wir wollen
nicht gerade in diesem Augenblick den Fehler
machen, in Fragen der „Kunst" (im weitesten
Sinne!) an ,,Dogmen" zu glauben! Damit soll
keine Willkür proklamiert sein: es gibt auch in
der Kunst eine „Logik", sie läßt sich aber nicht
errechnen, sondern nur erschauen wie die Logik,
mit der der Baum in seine Gestalt wächst. W. R.

Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes:

Professor Wilhelm Schnarrenberyer, Karlsruhe i. B., Südendslr -xi
Ouar Neriinger, Berlin-Charlottanburg, Dernburgtlr. 25
DipL-Ing. Fritz Frcmerev, Dülken Hhlil., Hühnermukt 16

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