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Nr. 3. HEIDELBERGER 1850.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

Eynardt Vie de Madame de Krudenel*.

(«Schluss.)
In den hohem Kreisen glänzte als entschiedene, obschon vorsichtige
Jüngerin Fräulein von Stourdza. Sie theilte dem Kaiser Alexander auf
dem Wiener Kongress zuerst einen Brief der Prophetin mit, welcher geheim-
nissvoll von einer göttlichen, dem Beherrscher des Nordens bestimmten Mission
sprach, offener dagegen die Rückkehr Napoleons, die Flucht der Bourbons
und einen blutigen, kurzen Krieg verkündigte. „Der Würgengel, hiess es
unter Anderm, nahet; die Welt sieht ihn nicht; das Gericht stehet hart
bevor, man bewegt sich auf einem Vulkan. Das schuldige Frankreich,
welches um des einst siegenden Kreuzes willen verschont bleiben sollte,
gehet seiner baldigen Strafe entgegen; der Sturm bricht aus; die Lilien,
welche noch einmal an Frömmigkeit und Reinheit mahnen sollten, werden
verschwinden. Eine grosse Umwälzung kommt; sie ergreift die Schulen,
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Wissenschaften, Staaten, Thronen; die Kinder Gottes versammeln sich. —
Kann man tanzen (in Wien} und sich in reiche Gewänder kleiden, wenn
Millionen seufzen; wenn heftige Parteiungen das Menschengeschlecht zer-
reissen? (I. 298.J“ Alexander wurde aufmerksam; er wünschte die
merkwürdige Frau, deren politische Orakelsprüche bald erfüllt wurden,
kennen zu lernen; am 9. Juni 1815 geschah die erste Zusammenkunft
im Hauptquartier Heidelberg. Der Kaiser, seit dem Tode des Vaters,
trotz des Frohsinns zur Schwermuth neigend und seit den Wechseln des
Kriegs in Russland, Teutschland und Frankreich einer ernsten, streng re-
ligiösen Stimmung zugänglich, bot der mystisch - pietistischen Prophetin
einen reichen Stoff der Verarbeitung. Stundenlange Gespräche und An-
dachtsübungen fanden Statt und befestigten eine geistliche Verbrüde-
rung, weiche in den nächsten Monaten, trotz der kriegerischen und po-
litischen Stürme an Innigkeit wuchs und zuletzt in ein gegenseitiges Be-
dürfniss umschlug. Die Krüdener folgte den Hauptquartieren, wie der
Schatten dem Leibe und wirkte in Paris mittelbar auch auf den Gang der
diplomatischen Angelegenheiten zurück. Sie ist z. B. wenn nicht die
Urheberin, doch die Hebamme des heiligen Bundes geworden, dessen
XLIII. Jahrg. 1. Heft. 3
 
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