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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 30.1914-1915

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Trübner, Wilhelm: Van Gogh und die neuen Richtungen der Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.13093#0147

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ragen, müßten ja unter allen Umständen die
Fähigkeit besitzen, nicht in einseitigem Sinne
zu urteilen, aber man wird ihnen zu Lebzeiten
diese Fähigkeit nicht zugestehen, ja man würde
sogar aus innerster Ueberzeugung heraus immer
die Mittelmäßigen für die Hervorragendsten
und Tüchtigsten halten. Um dies klar zu
machen, müssen wir etwas weiter ausholen.

Das Talent ist immer einseitig veranlagt,
das Genie dagegen immer doppelseitig, gegen-
sätzlich. Ein genialer Feldherr z. B. muß
außer dem Mut auch das Gegenteil davon,
die Vorsicht, besitzen, um je nach der Sach-
lage sich der einen oder der anderen Eigen-
schaft bedienen zu können. Der Talentvolle
dagegen, der immer nur eines der beiden
Extreme besitzt, würde in dem Falle, wenn
er der Mutige oder der Tollkühne wäre, der
gar keine Vorsicht kennt, in einzelnen Fällen
wohl Hervorragendes leisten können, in vielen
Fällen aber unterliegen müssen, sobald er selb-
ständig und unbeaufsichtigt handelte. Ebenso-
wenig wäre das andere Extrem, der Vorsich-
tige, der überall nur Gefahren sieht, allen
Vorkommnissen gewachsen, er würde vielmehr
viele günstige Gelegenheiten ungenützt ver-
passen. Also nur der Doppelbegabte, der über
die positive und negative Kraft zugleich ver-
fügt, würde in jeder Lage beruflich Großes
leisten ; was natürlich von allen einseitig Ver-
anlagten von dem Augenblick an auch erreicht
werden könnte, sobald sich die Positiven mit
den Negativen vereinigten und mit gemein-
samem Ziele sich unter die Oberleitung eines
Doppelveranlagten stellten. Nichts erscheint
leichter und vernünftiger als diese Vereini-
gung und doch stehen ihr erfahrungsgemäß
die größten Schwierigkeiten entgegen. Erstens
fühlen sich die positiven Naturen allein als
Talente und erklären die negativen für talent-
los, obwohl beide Veranlagungen einseitig,
deshalb auch gleichwertig und auf einer Stufe
mit dem Laienhaften stehend zu bewerten sind.
Dazu kommt noch, daß der Ueberragende von
Seite der Mittelmäßigkeit wie der des Laien
wegen seiner negativen Eigenschaft, die er
doch neben der positiven haben muß, eben-
falls als minderwertig verdächtigt wird. Dar-
aus erklärt sich, warum schon so oft hoch-
begabte aber noch unausgebildete Schüler von
mittelmäßigen Lehrern aus vollster Ueberzeu-
gung für talentlos erklärt worden sind. Wenn
aber seitens der Mehrzahl der Menschen die
vollkommenste künstlerische Eigenschaft als
eine wertlose bezeichnet werden kann, so läßt
sich aus diesem Grunde verstehen, wie schwer
der Idealzustand aus eigener Vernunft heraus
zu erreichen ist. Nur da, wo die Natur selbst

die Vereinigung der beiden Pole hergestellt
hat, also im doppelt Veranlagten, wirken sie
friedlich zusammen, aber in allen anderen Fäl-
len, wo sie vereinzelt vorkommen und sich dann
als erbitterte Feinde gegenüberstehen, werden
sie sich schwerlich die Hände reichen.

In großen Kunstzeiten ereignete es sich
wohl, wenn ein reicher Kunstmäzen oder ein
mächtiger Fürst zufällig oder absichtlich einem
Genie einen umfangreichen Auftrag erteilte,
daß sämtliche Künstler eines Platzes in der
richtigen Unterordnung einem großen Ziele
zustrebend sich vereinigen konnten. In unse-
rer Zeit ist es nur bei großen Künstlerfesten
vorgekommen, daß eine Vereinigung aller
Kollegen bis zum Akademiker und Kunstge-
werbeschüler herab stattgefunden hat, um an
einer gemeinsamen Aufgabe zusammen zu
arbeiten, weil bei solchen improvisierten Kunst-
leistungen monumentaler Art ein eigentliches
Oberhaupt nicht nötig ist; da tut's jede um-
sichtige Vorstandschaft.

Zur Zeit, als die Peterskirche in Rom er-
baut wurde, war mit dieser Aufgabe eine Zeitlang
Bramante, eine Zeitlang Raffael und eine Zeit-
lang Michelangelo betraut und damit konnten
alle hierzu beigezogenen Künstler gleichmäßig
beschäftigt werden, ob sie nun in den Augen
der Mittelmäßigen und des Publikums größere
oder kleinere Talente waren. Dieses Beispiel
einer großen Kunstblüte zeigt, daß die Ober-
leitung bei Monumentalaufgaben nicht unter
allen Umständen dem Baukünstler zufiel, son-
dern unter allen Umständen dem Genie, wenn
dies auch manchmal ein Maler oder manch-
mal ein Bildhauer war. Erhielte nun der ein-
seitig Talentvolle, also der Mittelmäßige, einen
umfangreichen Monumentalauftrag, so könnte
das Werk im ganzen nur eine mittelmäßige
Qualität erreichen, selbst wenn alle Grade der
Begabung mitarbeiteten. Nur an einzelnen
Stellen, wo gerade die Auserwählten beschäf-
tigt gewesen wären, hätte man es dann mit
bleibenden Werken zu tun, wie bei einer Aus-
stellung oder einer Sammlung moderner Meister.

Da das Genie durch seine Eigenschaften,
das Verständnis besitzt für die positiven und
für die negativen Kräfte, so wird auch die
Fähigkeit weitgehendster Einsicht und Toleranz
nur bei ihm vorhanden sein, damit aber auch
ein Hauptargument für seine Führereigenschaft
bilden. Weil aber in Kunstangelegenheiten stets
der Mittelmäßige von aller Welt für den Tüch-
tigsten und Befähigtsten gehalten wird, so liegt
in dieser Notwendigkeit ununterbrochenen Irr-
tums auch zugleich der Grund, warum das Gute
so schwer durchführbar ist, dagegen Kampf
und Streit wie unter den politischen Parteien

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