„In der Hauptgruppe, zur Seite Tulps, sieht man
Mathijs Kalkoen, etwas nach vorne geneigt, das
Haupt fast in Vorderansicht, den Blick auf das
Gesicht des Redners gerichtet, die Linke auf der
Brust . . . Zur Rechten Kalkoens Jacob de Witt,
fast in Seitenansicht nach rechts vornübergebeugt,
scharf zusehend nach dem Arm des Objektes.
Hinter ihm und über ihn sich beugend Jacob Block,
gleichfalls aufmerksam zuschauend." Diese Be-
schreibung stimmt nicht. Mathijs Kalkoen blickt
nicht auf den Redner, sondern ins Leere, wie
einer, der mit innerer Aufmerksamkeit über Ge-
hörtes nachdenkt. Und die beiden andern sind
keineswegs „scharf zusehend nach dem Arm des
Objektes" dargestellt, sondern sie blicken über den
ausgestreckten Leichnam hinweg in den großen
Folianten, der zu Füßen des Leichnams steht.
Was ist in diesem Folianten zu sehen? Offenbar
das, was der Professor demonstriert. Die Hörer
vergleichen das Demonstrierte mit der Abbildung
eines Lehrbuches! Die fast gewaltsam vorgebeugte
Haltung des Jacob de Witt mit dem scharf fixieren-
den Blick ist erst durch den Folianten motiviert,
und dieser Foliant gibt erst der ganzen Demon-
stration ihren besonderen Charakter. Professor Tulp
macht mit der Linken eine dozierende Gebärde
(erhebt nicht etwa, wie man gemeint hat, die
Hand, um die Funktion des Muskelapparats zu
veranschaulichen). So bleibt es schließlich nicht
schwer, den Folianten auch seiner gegenständ-
lichen Existenz nach zu bestimmen. Der Zeit und
dem dargestellten Format nach kann es sich nur
um die klassische Ausgabe der Anatomie des Vesal
handeln: De humani corporis fabrica libri Septem.
Basileae 1555*. Die Situation ist die, daß Tulp im
Verlaufe der Sektion bei einer allgemeinen Be-
merkung angelangt' ist. Er sagt etwa: „Meine
Herren, was ich Ihnen hier zeige, finden Sie ge-
nau so bei dem berühmten Begründer unserer
modernen Anatomie, Andreas Vesalius dargelegt.
Uberzeugen Sie sich, daß die Sache stimmt."
So kann man nun auch im Vesal die Seite auf-
schlagen, die wir erblicken würden, wenn wir in
den von Rembrandt gemalten Folianten hinein-
* Nach der Darstellung des Folianten kommt keiner der
späteren Drucke oder die Epitome in Betracht. Die ver-
schiedenen Ausgaben verzeichnet bei Ludwig Choulant,
History and Bibliography of Anatomie illustration, Chi-
cago o. J. [1920], S. 181 ff.
sehen könnten. Es ist die Seite 159 der oben ge-
nannten Ausgabe mit der Figur, die die Über-
schrift trägt: Quid musculus caput I. Diese Figur
zeigt die bloßgelegte Armmuskulatur, wie sie von
Tulp auf dem Bilde erklärt wird.
Tulp besaß selbstverständlich den Vesalfolianten.
(Daß dieses Buch unter den Malern des Rem-
brandtkreises sogar einer „Porträtierung" als würdig
erachtet wurde, erweist ein Stilleben des Gerard Dou,
H. d. G. No. 387a. Abb. bei Holländer, Die Medizin
in der klassischen Malerei. 3. Aufl., S. 46.) Sollte
übrigens Tulp den Ehrgeiz besessen haben, sich
wie Vesal bei der Präparation eines Armes por-
trätieren zu lassen? Es fällt auf, daß das Motiv
der von Rembrandt wiedergegebenen Sektion in
den zahlreichen Anatomiedarstellungen der vorauf-
gehenden Zeit singulär dasteht. Gewöhnlich wird
die Bauchhöhle geöffnet. Nur im Porträtholzschnitt
des Vesalius selbst von 1542, der in dem Anatomie-
folianten zu finden ist, kommt das Motiv vor.
Ein auf dem Tische liegender Zettel macht aus-
drücklich darauf aufmerksam, womit der berühmte
Anatom sich im Augenblick beschäftigt: „De
musculis digitos moventibus." Es ist das gleiche
Kapitel, das Tulp in Rembrandts Anatomie vor-
trägt. Und wenigstens in diesem Punkte hat der
Auftraggeber, wie es scheint, bestimmend auf das
Bild Rembrandts eingewirkt. Vielleicht auch in
der Forderung, daß er sich in einer bestimmten
historischen Form des Dozierens — an der Hand
von Anatomieabbildungen — dargestellt wissen
wollte. Hier jedenfalls begegneten sich Auftrag-
geber und Künstler. Denn was hat Rembrandt
gerade aus diesem Motiv der Demonstration ge-
macht! Erst die Beziehung des Vesalfolianten
zur Hörergruppe und zum Dozenten bringt das
entscheidende Moment für die Individualisierung
der Szene in Raum und Zeit, und erst aus dieser
Beziehung gewinnt Rembrandt den Maßstab für
die Abstufung geistiger Aktivität bei den Darge-
stellten. Schließlich: der raumdurchmessende Blick
der Zentralgruppe nach dem Folianten hin bedeutet
eine engere Verbindung der rechten Bildseite mit
dem Aufbau der Figuren. Erst dadurch, daß man
die Blickrichtung des de Witt und des Jacob Block
in der dargelegten Weise auffaßt, verschwindet der
Eindruck des Ungefüllten aus den Bildecken, und
man erkennt auch in diesem Falle: bei Rembrandt
gibt es keine „Lückenbüßer".
Mathijs Kalkoen, etwas nach vorne geneigt, das
Haupt fast in Vorderansicht, den Blick auf das
Gesicht des Redners gerichtet, die Linke auf der
Brust . . . Zur Rechten Kalkoens Jacob de Witt,
fast in Seitenansicht nach rechts vornübergebeugt,
scharf zusehend nach dem Arm des Objektes.
Hinter ihm und über ihn sich beugend Jacob Block,
gleichfalls aufmerksam zuschauend." Diese Be-
schreibung stimmt nicht. Mathijs Kalkoen blickt
nicht auf den Redner, sondern ins Leere, wie
einer, der mit innerer Aufmerksamkeit über Ge-
hörtes nachdenkt. Und die beiden andern sind
keineswegs „scharf zusehend nach dem Arm des
Objektes" dargestellt, sondern sie blicken über den
ausgestreckten Leichnam hinweg in den großen
Folianten, der zu Füßen des Leichnams steht.
Was ist in diesem Folianten zu sehen? Offenbar
das, was der Professor demonstriert. Die Hörer
vergleichen das Demonstrierte mit der Abbildung
eines Lehrbuches! Die fast gewaltsam vorgebeugte
Haltung des Jacob de Witt mit dem scharf fixieren-
den Blick ist erst durch den Folianten motiviert,
und dieser Foliant gibt erst der ganzen Demon-
stration ihren besonderen Charakter. Professor Tulp
macht mit der Linken eine dozierende Gebärde
(erhebt nicht etwa, wie man gemeint hat, die
Hand, um die Funktion des Muskelapparats zu
veranschaulichen). So bleibt es schließlich nicht
schwer, den Folianten auch seiner gegenständ-
lichen Existenz nach zu bestimmen. Der Zeit und
dem dargestellten Format nach kann es sich nur
um die klassische Ausgabe der Anatomie des Vesal
handeln: De humani corporis fabrica libri Septem.
Basileae 1555*. Die Situation ist die, daß Tulp im
Verlaufe der Sektion bei einer allgemeinen Be-
merkung angelangt' ist. Er sagt etwa: „Meine
Herren, was ich Ihnen hier zeige, finden Sie ge-
nau so bei dem berühmten Begründer unserer
modernen Anatomie, Andreas Vesalius dargelegt.
Uberzeugen Sie sich, daß die Sache stimmt."
So kann man nun auch im Vesal die Seite auf-
schlagen, die wir erblicken würden, wenn wir in
den von Rembrandt gemalten Folianten hinein-
* Nach der Darstellung des Folianten kommt keiner der
späteren Drucke oder die Epitome in Betracht. Die ver-
schiedenen Ausgaben verzeichnet bei Ludwig Choulant,
History and Bibliography of Anatomie illustration, Chi-
cago o. J. [1920], S. 181 ff.
sehen könnten. Es ist die Seite 159 der oben ge-
nannten Ausgabe mit der Figur, die die Über-
schrift trägt: Quid musculus caput I. Diese Figur
zeigt die bloßgelegte Armmuskulatur, wie sie von
Tulp auf dem Bilde erklärt wird.
Tulp besaß selbstverständlich den Vesalfolianten.
(Daß dieses Buch unter den Malern des Rem-
brandtkreises sogar einer „Porträtierung" als würdig
erachtet wurde, erweist ein Stilleben des Gerard Dou,
H. d. G. No. 387a. Abb. bei Holländer, Die Medizin
in der klassischen Malerei. 3. Aufl., S. 46.) Sollte
übrigens Tulp den Ehrgeiz besessen haben, sich
wie Vesal bei der Präparation eines Armes por-
trätieren zu lassen? Es fällt auf, daß das Motiv
der von Rembrandt wiedergegebenen Sektion in
den zahlreichen Anatomiedarstellungen der vorauf-
gehenden Zeit singulär dasteht. Gewöhnlich wird
die Bauchhöhle geöffnet. Nur im Porträtholzschnitt
des Vesalius selbst von 1542, der in dem Anatomie-
folianten zu finden ist, kommt das Motiv vor.
Ein auf dem Tische liegender Zettel macht aus-
drücklich darauf aufmerksam, womit der berühmte
Anatom sich im Augenblick beschäftigt: „De
musculis digitos moventibus." Es ist das gleiche
Kapitel, das Tulp in Rembrandts Anatomie vor-
trägt. Und wenigstens in diesem Punkte hat der
Auftraggeber, wie es scheint, bestimmend auf das
Bild Rembrandts eingewirkt. Vielleicht auch in
der Forderung, daß er sich in einer bestimmten
historischen Form des Dozierens — an der Hand
von Anatomieabbildungen — dargestellt wissen
wollte. Hier jedenfalls begegneten sich Auftrag-
geber und Künstler. Denn was hat Rembrandt
gerade aus diesem Motiv der Demonstration ge-
macht! Erst die Beziehung des Vesalfolianten
zur Hörergruppe und zum Dozenten bringt das
entscheidende Moment für die Individualisierung
der Szene in Raum und Zeit, und erst aus dieser
Beziehung gewinnt Rembrandt den Maßstab für
die Abstufung geistiger Aktivität bei den Darge-
stellten. Schließlich: der raumdurchmessende Blick
der Zentralgruppe nach dem Folianten hin bedeutet
eine engere Verbindung der rechten Bildseite mit
dem Aufbau der Figuren. Erst dadurch, daß man
die Blickrichtung des de Witt und des Jacob Block
in der dargelegten Weise auffaßt, verschwindet der
Eindruck des Ungefüllten aus den Bildecken, und
man erkennt auch in diesem Falle: bei Rembrandt
gibt es keine „Lückenbüßer".