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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 24.1926

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Heft 12
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Coquiot, Gustave: Modigliani
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https://doi.org/10.11588/diglit.7391#0495

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einmal auf der zwanzigsten Stufe des Plagiats; da
spezialisiert man sich auch noch nicht.

Im Atelier des guten Schülers Amedeo hingen
also nebeneinander „Die beiden venezianischen
Kurtisanen" von Carpaccio, die so sehr den kahlen
Exemplaren auf den Hundeausstellungen gleichen;
„Tod und Himmelfahrt Maria"; und ferner von
Carpaccio: „Der heilige Stephan disputiert mit
den Gelehrten", „Der heilige Georg im Kampf
mit dem Drachen", ein junger Ritter mit etwas
„verhurtem" Aussehen. Modigliani hatte auch das
Frauenporträt von Lotto (aus der Galerie Carrara)
an die Wand geheftet, „Christus und seine Mutter"
von Orcagna, „Jesus bei Simon" von Veronese;
von Perugino: „Die Geburt" und „Don Baltasar".
„Die Jungfrau mit Kind" der Galerie Pitti, das
von Lippi signiert ist; den „Frühling" von Botti-
celli; und schließlich Photographien von Bildern
Tizians, Corregios — und selbst Andrea del Sartos.

Alle diese Photographien packte Modigliani
eines Tages vor mir aus einem Karton; und er
lächelte und sagte: „Aus der Zeit, da ich noch ein
«Bourgeois» war."

Seine andere Passion in dieser Zeit war die
Lektüre Spinozas. Olfen gesagt, später wußte mir
Modigliani selbst niemals zu erklären, warum er
sich so in den „Tractatus-theologico-politicus" ver-
tiefte, wenn ihm die „Ethik" weniger absonderlich
erschien. Er sagte mir wohl, er sei von der geo-
metrischen Form gefesselt, die hier auf den äußer-
sten Gipfel der cartesianischen Methode getrieben
sei; und dann, setzte er hinzu: „Habe ich hier
nicht die peinlichste, die exakteste, die grausamste
Form des Pantheismus?" Mag sein! aber ich habe
mir immer gedacht, für Modigliani sei die Lektüre
Spinozas eine Phantasie wie viele andere, die sich
sehr schnell bei ihm einzustellen pflegten.

Nachdem er viele sehr ordentliche Porträts ge-
malt hatte, machte er sich eines Tages daran —
ganz zögernd — sich mit Haschisch zu vergiften.
Das war so Mode in der Welt der jungen Dichter,
der jungen Maler und der jungen Frauenzimmer
— von zwanzig bis sechzig Jahren. Man trank
auch einen kleinen Schluck Äther. Man „visio-
nierte", wie man damals sagte.

Modigliani hatte Eile mit seinen Absonder-
lichkeiten. Sagte er sich, sein Leben würde bald
zu Ende sein — oder strebte er als Jude zum Ge-
nießen? Ich sah ihn jetzt immer auf der Suche

nach etwas Neuem; so zeigte er mir eines Tages
Skulpturen, die ganz und gar unter dem Einfluß
der Negerskulptur modelliert waren, wie sie in ge-
wissen Ateliers — und bei gewissen verbrauchten
Kunstkritikern gesammelt wurden, die inzwischen
Galeriebeamte geworden waren.

Um diese Zeit — genau im Augenblick der
Negerskulptur-Mode — kam Modigliani von der
Butte nach Montparnasse herunter.

Da landete er in einem wahren Hundeloch,
was sage ich? im richtigen Mist!

Alle Ghettos der Welt hatten hier schon ihre
schlimmsten Produkte abgeladen. Alle Völker hat-
ten auch ihre Vertreter hierhergeschickt, die sich
durcheinander auf dem Boulevard Montparnasse
und Raspail in der Rue Campagne-Premiere, De-
lambre, Boissonnade, de la Gälte, d'Odessa usw.
einlogiert hatten . . . Spanier, Türken, Walachen,
Polen, Russen, Österreicher, Deutsche, Griechen,
Italiener, Norweger, Schweden, Schweizer tum-
melten sich in dem eroberten Paris, — in dieser
Stadt, die die große Hure der Welt ist. Und ganz
natürlich war der engste Winkel, der schmutzigste
Verschlag schnell zu einem Atelier geworden für
alle diese Eliakims, Maler oder Bildhauer, die auch
unverzüglich ihre Konkubinen fanden in dem Pack
der Pariser und ozeanischen Midinetten.

Immerhin muß ich gestehen, daß alle diese
Fremdlinge auch ihr Gutes haben, denn sie tragen
zur Erheiterung bei. Wieviele Vormittage, wäh-
rend ich auf der Terrasse eins ihrer Cafes saß,
habe ich mich damit unterhalten, sie vorübergehen
zu sehen: der eine als Arkansastrapper kostümiert,
der andere sah wie ein Violinspieler aus; ein
dritter war ein Tartar, ein vierter ein Herr Pro-
fessor mit einer Brille, ein fünfter ähnelte einem
Muschik, ein sechster einem griechischen Infan-
teristen im Rock, bis zum zehnten, der mit Lum-
pen angezogen war, auf dem Kopf ein „Bibi"
(Hütchen), wie es Dranem trägt.

Und ihre Begleiterinnen waren nicht weniger
erfreulich, denn, auffallend und oft hübsch, traten
sie mit der ganzen Freiheit ihrer Sitten und ihrer
Meinungen auf. Sie belebten mit pittoreskem und
lustigem Leben die düsteren Straßen und die platten
Boulevards; und wie unbeholfen sich diese jungen
Mädchen dabei benahmen, Töchter von Kaufleuten

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