Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1929)
DOI Artikel:
Bernhart, Joseph: Bild oder Wort?: ein literarischer Brief
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0013

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
XXXXIII.

Bild oder Work?

Ein literarischer Brief
Von Ioseph Bernhart

agcn Sie: ist sie häßlich, isi sie schön, diese Zeik? Ich glaubc, wir

^ lciden alle an ihr, ob wir mit ihr kanzen oder absciks stehen und klagcn.
Die einen ankworken auf alle dionysische Verzauberung mik dem Gähnen am
Morgen danach, die andern, im Numen Apollos ihren gerafften Geiff nach
der Skrcngc scines Gesehes und Gebokes aussingend, haben nur die Sterue
zu Hörern und die Winde zu Boten. Wir Merzig- und Fünfzigjährigen

— sahen wirs nicht lange schon so kommen? Um igoo fühlke der Philiffer ein
Rumoren in den Eingeweiden, cr knöpfke, wenn auch noch unker dem honctk
getragenen Bürgcrmantel, scine Unterkleidung auf und entzückte sich an dem
Wort Rkatur als eincr Angelegenheit halb der Kunff und halb einer bequeme-
ren Sittlichkeit. Haupt- und Sudermann, für seine Ohren damals noch cin
Paar wie Max und Moritz, bewiesen ihm die Blamage der älteren Welt-
anschauung von Sokrates bis auf Leo XIII., von Kantens umffändlicher
Philosophie behielt er wenigstens den fortfchrittlichen Gässenhauer vom „auto-
nomen" Menschcn, Skrindberg säh er lieber im Rausch sich übergeben als
näch Damaskus reiten, und auch den Lapferen Baumeiffer Ibsen sah er gern

— bcim Abbruch. Philiffer, sagke ich? Ich meinte natürlich auch den weib-
licheu Flügel. Ebcn ein solches Philisterweib, überzeugk, daß ihre Ehe nicht im
Himmel geschlossen sei, setzke einmal — so erzählte mir ein Freund des Dichters

— ihren Fuß mik dem drückenden Schuh an Ibsens Tür. Herr Doktor, Sie
haben mir Mut gegeben, mich scheiden zu lassen. — So, mein Kind —
wodurch? — Nün, ich habe Nora gesehen. — Und wcshalb wollen Sie
gehen? — Aus Wahrhaftigkeit; ich liebe eincn andern; darum gehe ich. —
Tun Sic das nichk, mein Kind! — Das sagen Sie, Herr Doktor? Nora
geht auch! — Ibsen, mit seiner Kinderffimme, den Finger hebend: Allcin ü
Philistcr und Philifferinnen erlebten igoo Schulschluß nach dcm Christen-
tum. Nanzen und Tafcl und Grammatik zum Teufel! Ia was flog nicht
alles davon! Alle Butzenfcheiben klirrten, und die Klassiker warf man den
Romantikern und die Romantikcr den Klassikern nach. 2luch an Schillcrs
Glocke (sagen Sie, ffeht doch wenigstens ihr altes Urbild noch im Schaff-
hausener Kreuzgang?) hängten sich damals die Buben zum ersten Spott-
geläuk, ncin, zum zweiten, denn fchon die romantifchen Zeitgenossen lasen
sie ihren Damen unter Lachkrämpfen vor; man konnte sie, man konnte jetzt
allcs erlogene Pathos des — nun ja — „Moraltrompetcrs von Säckingcn"
billig dem 2llthändler lassen, denn nun besaß man: Die versunkene Glocke.
Ilnd für alle Gesühlchen und Triebchen jener Wechseljahre hatte man auch

Oktoberhest 1929 (XXXXIII, i)

I
 
Annotationen