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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

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Heft 1 (Oktoberheft 1929)
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Michel, Wilhelm: Die eigene und die fremde Meinung: über das Zusammenleben von Menschen und Überzeugungen
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Aus: "Das deutsche Vortragsbuch"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0073

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eine solche Warnung im heutigen Deukschland nichk fehl am Ork — beson-
ders vorsichtig sein gegenüber solchen Meimmgen, Bekenntnissen, Überzeu-
gungen, die ergiebig sind im Hervorbringen von ernsterem Haß. Die Aufleh-
nung gegen die Welt überhaupt steht hier immer nahe dabei. Duldung dagegen
ist nicht nur dem Wort, sondern auch der Sache nach mit jener Geduld ver-
wandt, der sich das Leben in immer reicherer Fülle fchenkt. Wir dulden,
indem wir den Nrbenmenfchen dulden, lehten Endes nicht ihn, sondern Gott.

Llus: „Das Deutsche Vorkragsbuch"

Borbemerkung: Unker di'esem Titel läßt der Lektor für Dortragskunst an der
Münchner Universität, Fritz Gerathewohl,im Verlag Georg D. W. Callwey
soeben eine AnSwahl von Dichtungen erfcheinen, die unter dem Gesi'chtspunkt der
Sprechbarkei't getrossen wurde. Fm Gegensah zu den üblichen „Deklamatorien" ent-
hält die Sammlung keinerlei billigen Estekten dienende „Reißer", sondern nur Proben
wertvollen deutfchen Schriftguts gebundener und nngebundener Form. Ausgiebig
bedacht wurde die Dichtung der Gegenwart, unter deren Dertretern (Hesse, Hof-
mannsthal, Thomas Mann, Rilke, Trakl usw.) der Kunftwartleser manchen ihm
vertrauten Namen finden wird wie: Alverdes, Binding, Billinger, Carossa, Kolben-
heyer, Penzoldt, Renn, Schaeffer, Stoessl, Stehr. Der Nutzen des Werkes zeigt
sich auch insofern, als es der Herausgeber mit einer für den Laiensprecher wi'e für
den Pädagogen und Künstler wichtigen Einführung in daö Wesen gesprochener Dich-
tung und mit praktifch verwertbaren Hinweisen für den Vortrag der Proben ver-
sehen hat. Ein Beispiel bringen die solgenden Seiten.

Kriegsbriefe gefallener Studenten

I

Herbert Weißer (ges. 2^. Mai igiZ vor Ipern).

Flandern, im Mai igiZ.

s Liebe Mutter! — Damit rechnet doch jeder, der ins Feld zieht, daß er einsam
draußen fterben muß. DaS ist doch nicht so furchtbar Schlimmes! Das Ster-
ben ist m'chts Schlimmes mehr, wenn es erst an einen herantritt. DaS macht
einem erst daS Sterben fchwer, wenn man weiß, daß die Angehörigen sich ganz
nutzloS mit ihrer eigenen Phantasie quälen und sich die schrecklichsten Situationen
10 auömalen, von denen die, die ihnen als die fchrecklichste erfcheint, tatsächlich die schönste,
wenn auch die letzte Stunde unseres Lebens sein kann. Was ist denn da Schlim-
mes dabei, wenn man ganz einsam aus dem Felde liegt und weiß, es geht zu Ende?
Gar nichts Schlimmes. Da kann man so ruhig und friedlich sein, wie man seit
seiner Kindheit niemals mehr gewesen ist. Wenn man an das Sterben eines Sohnes
15 denkt, so soll man es ruhig und ohne quälende Bilder tun, wie der Sohn selbst es
auch tun wird. Wenn man daS nicht tut, so gießt man ihm in die letzte Stunde
seines LebenS einen bitteren Tropfen.

II

Wilhelm Wolter (gef. 16. April igiz bei Vouziers).

20 Bei Vouziers, April igiZ.

Draußen knattert die ganze Nacht heftiges Gewehrfeuer; nach unseren Beobach-
tungen fcheint wieder ein Sturm bevorzustehen. Jch habe mich längst mit allen
Möglichkeiten abgefunden. Man sagt immer, es müßte für die Jungen leichter
sein, in den Tod zu gehen, als für die Älteren, die Väter und anderen. Fch glaube
25 kaum; denn ein solcher wird die Aufgabe seines Lebens, wenn er überhaupt eine

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