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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 5 (Februar 1930)
DOI Artikel:
Stoessl, Otto: Der sechste Sinn des Dichters: ein Versuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0323

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xxxxm.

Der sechste Sinn des Dichters

Ein Versuch
Von OtLoSkoessl

^V^dor JahEi hak di'e WissenschafL in den Knöchelchen des inneren Ohres
einen sechsten Sinn des Menschen enLdeckL: den Gleichgewichtssinn. Bei
SLörungen dieser Qrgane versagt die körperliche SLaLik. Es ist kcin Zweifel,
daß sich dieser GleichgewichLssinn, bei jedem verschieden ausgebildeL, in allem
Lcben des Menschen gelLcnd machk. Er begleiteL und führL ihn, wie es seine
anderen Sinne Lun, und mi'L ihm wie miL den andern gewinnL und mißL er
scineu Lebensraum.

Das Kunstwerk, das sich ja durchaus auf die Süme beziehL und ihren Ein-
drücken mit Ausdruck antworkeL, wird also sicherlich von diesem Gleich-
gewichLssinn miLbestimmt, und das kann uns über manche Vorgänge der Ent-
stehung, der Aufnahme, der Form, der äußeren BeschaffenheiL und inneren
Notwendigkeit der künstlerischen Lcistung aufklären.

Das Kunstwerk wirkL durch einen oder mehrere Sinne und auf sie, während
die übrigen nur miLLelbar beLeiligk bleiben. Das machL die BesonderheiL jeder
Kunst aus und bedingL ihre Formgesehe, indem an gewisse Organe nur mik
ihren Ausdrücken gerührL und die erlebke TotaliLäL gleichsam nur miL ciner
ÜberseHung in ciner anderen Sprache erwidert werden kann. Dies und das
Mitschwingen anderer als der eigentlich bekroffenen Sinne ist gcmeinL, wenn
der Maler von „Farbtönen", der Musiker von „Klangfarben" sprichL. Die
AnLwort, der Ausdruck umfaßt mehr, als dcr sinnliche Eindruck zu bietcn
scheinL, aber entrückt ihn zugleich in eine andere Sphäre, erösfneL cinen
„ahnungsvollen Unzusammenhang" (A. W. Schlegel). MelleichL wäre cben
auf dieser Beschränkung der gegebeneu Mittel eine sogenannte Kunstlehre als
Erkenntnis der BedingtheiL, der GesetzlichkeiL der Kunstformen zu begründen.
Der BezogenheiL der Eindrücke erwiderL die BegrenztheiL des Ausdrucks, doch
lieferL die zusammensasscnde Einbildungskraft ein Ganzes im Einzelnen —
das WelLbild. So setzk sich bei der DichLung der Schöpfungsprozeß eincr
Deukung des ErlebLen zum Begriff und WorL, zur Sprache als zur ersten
und von ihr zum Sprachwerk, zur Dichtung, als zur Höchsten Sinn-
gebung fort.

Ahnlich erweitert sich das SeelengcbicL des Schaffenden, der nur seine eigensteu
Eindrückc verarbeitcL, abcr durch dic Führung und Folge der Mitlebendcn zu
einer gültigen GesamtheiL von Ein- und Auswirkung findek. Der einzelnc,
von seiner BorstellungswelL durchdruugen als von einer Realität, überzeugt
allc davon. Dabei mangelt nie das Bewußksein, daß Unsagbares dennoch

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Februarheft igzo (XXXXIII, 2)
 
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