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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 5 (Februar 1930)
DOI Artikel:
Stoessl, Otto: Der sechste Sinn des Dichters: ein Versuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0324

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gesagL iverden müsse, uild dicses Bewußisein machk dcu Iiihali', die kragisckc
Äestimmung, aber auck die Erfullung aller Kunst aus.

Phankasie vernimmt das Zwischenlicgcnde, „Ausgesparte".

Einige Bemerkungen über die Bedeutung und Wirkung dcs Gleichgewichts-
sinucs iii den Künsten, zumal in der Dichtung, möchten auch hier mehr zur
Ergänzung anregen, als das eben nur zu Ahnende erschöpfen, und möchten den
inneren Zusammenhang durch Andeukimg seincr Bezichungcn bewußker
machen.

Entspricht dcm Gleichgcwichtssiun als Eindruckssphäre cine bcscmdere Aus-
druckssphärc einer bestimmten Kunst, so wie etwa die Musik dem Gehör? Er
ist in den bildendcn Künsten uumittelbarcr mittätig, als in den redendcn, wohl
zuglcich mit dem Tastsinn. Mit ihm betätigk er sich in der Plastik. Der
Gleichgewichtssinn wird ini flächigen Bild mittelbar, im räumlichen Bild-
hauer- und Bauwerk immittclbar berührt, und antwortet aus der Fläche nur
gcwissermaßen gleichnishaft durch die „Ausgcwogenheit" der Farben, der be-
wegten uud der tragenden Teile, während er im Raum, iu dcr Plastik, vor-
züglich aber in der Architcktur die eigcntliche Gestaltung durchseHL, üidem er
die beständige Spannung und Bewegung zu einem Ruhezustande von innerer
GegensäHlichkcit, zur Form vercwigt. Was man in allen Künsteu „Kompo-
sition" ncnnt, liegk zweisellos in diescm Gleichgewichtssinn, der zum Beispiel
in der Musik zwischen dein Melodischen uud Rhythmischcu eincu schwcbendeu,
dabci gespannten, antinomischen Zustand — Harmonie — ein Ruhen im
Zeitverlaus ausdrückt.

Wo der menschliche Körper selbst, wie beim Tanz, beim Schauspiel, bei der
Pantomime (dem Film) mikspielt, wird der Gleichgewichtssinn so weit zum
Träger der Form, als dcr Mensch der des Inhalts ist. Wer häkke nicht beim
Erlcbnis „Stadt" die mächtige Mitwirkmig des Gleichgcwichtssümes gcspürk,
dcr von dcr Gcsamthcit cincr Anlagc imiüttcn dcr dnrchlaufenden Be-
wegung bei der wohltuenden Gliederung der Massen, sowie des Ossenen an-
gcnehm, von der sinnloscn, ini „Durchcinander" peinlich berührt wird.
Gewisse Bau- und Bewcgungstollheiten moderner Großstädte verrateu
ebenso wie gewisse soziale, politische, künstlerische im Moralischen, cine all-
gemeine Störnng oder zumindesi ein übcrmäßiges Ausschlagcn, eine Wider-
setzlichkeit gcgen den Gleichgewichtssinn, einen wollüstig-schancrlichen willent-
lichen Sturz in gespielten Wahnsinn, indem das Gehirn der Menschen von
seiner verhängnisoollen Gabe, allcs Denkbare denken zu können, den Ge-
brauch macht, es auch tun, oder wenigstens bis aus Widerruf vcrsnchen zu
dürfen.

Die Berücksichtigung des SLeLigkcitssinnes übcr das bloße Zusammenhalkcn
dcr Formen hinaus bildet wohl das eigenklichc Problem des Städtebanes
als einer übergeordneten Architektonik der Architektnr. Schou hier deutet sich
übrigens an, daß der Glcichgewichtssinn eine gcistigcre, nicht bloß physika-
lische Wirkung auslöst.

Die Dichtung als die mÜkelbarste Kunst ziehk sich in ihrer Entwicklung von
rcin sinnlichcr immer mchr auf diese gcisiige Äußerung zurück, vom gehörken
Wort auf das Buchstabenbild, von der bloßen Schallnachahmung der sinn-
lichen Wahrnehmung aus deren geistige Erweikerung und Entrückung in den
 
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