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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1929)
DOI Artikel:
Alverdes, Paul: Neue Bücher vom Krieg, 3
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0155

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Neue Bücher vom Krieg. III.

Don Paul Alverdes

dwin Erich Dwinger, Fahnenjunker in einem Dragoner-Regimenk, si'ebzehn

^Jahre alt, geriet im Frühling igiL an der Düna schwerverwundet in russische
Gesangenschaft. Er lag dann mit einigen Kameraden seines Beritts eine Zeitlang
in einem Moskauer Parade-Lazarett und kam halb geheilt in das Lager Totzkoje;
an Flecktyphus, der nicht lange nach seiner Ankunst dort ausbrach, starben in we-
ni'gen Wochen auf den übereinandergestasfelten Holzpritschen, m den Fluren dev
ungeheizten Erdbaracken und vor ihren Türen im Schnee siebzehntausend deutsche,.
österreichische und ungarische Soldaten. Er kam mit wenigen davon und in ein ande-
res Lager nach dem innersten Sibirien, und blieb dort bis ins vierte Jahr, in wel-
chem ihm die Flucht gelang. Jn all dieser Zeit hat er die Augen aufbehalten und
sich die Gestalten und Ereignisse der Gesangenschaft ties ins Herz gegraben. Aus
Grund von Auszeichnungen in Tagebüchern, welche zum Teil durch die berühmt ge-
wordene Delegierte des schwedischen Roten Kreuzes, Elsa Brandström, noch wäh-
rend des Krieges nach Deutschland gerettet worden, hat er nun sein Buch: „D i e
Armee hinter Stacheldraht" (E. Diederichs Derlag, Jena) geschrieben; es
ist nicht zuviel gesagt, wenn man eS neben dem Buche Ludwig RennS daS erschüt-
terndste Dokument dieser Jahre nennt.

Auch hier sprechen, wie bei Renn, die Tatsachen. Sie sind das Grauen der Hölle
selbst. Zwar, daß in gewissen russischen und rumänischen Lagern, die unter dem
Kommando halb aberwitziger und halb bis zur Ässischkeit eitler und tyrannischer
Ossiziere standen, die Gefangenen an Hunger, Frost und Seuchen zu Tausenden star-
ben, davon war mit der nüchternen Aufzählung von einigen Zissern zuweilen schon
in Protesten und Aufrufen noch während des Krieges zu lesen gewesen. Man hatte
es halb glauben müssen und halb nicht können, weil unsere Einbildungskraft nicht
imstande war, eine Statistik dieser Art in Begebenheiten unter Menschen zu über-
setzen. Jetzt, in diesem sehr genaucn, surchtbar anschaulichen Bericht eines Knaben,
der alleü mit hat ansehen müssen, wird es so deutlich, daß sich unS das Herz in
der Brust klemmt und das Auge zuweilen weigert, länger hinzuschauen. Denn nun
sind es keine Zissern und Formeln mehr, deren Aneinanderreihung die Summen sür
einen Archivakt oder einen Aufruf ergibt, sondern es sind lauter Menschen, sehr be-
stimmte, durch Leibesbeschassenheit, Stimme und Gebärden, durch Abkunst und Ge-
mütsart, durch zerbrechliches oder durch festeS, oder schwankendes Wesen crkennbar,
sichtbar und damit liebenswert in einem höchsten Sinne gemachte Kreaturen, unse-
resgleichen allesamt. Da ist Podbielski, genannt Pod, eine Seele von eincrn Bie-
dermann und Kameraden, da ist Schnarrenberg, der aktive Soldat von Passion,
da ift Seydlitz, einer jener adligen Jungen, für die daö Kriegführen etwaS wesen-
haft andereö bedeuten konnte und mußte, als für so viele gewissermaßen nur Hinein-
geratene deS Massenaufgebots. Zu diesen zählt etwa Brünn, der sich langsam zu
Tode schwächt, oder der in seinen Träumen Kaffee auswiegende Blank, der am
Ende ein Lagerhürchen geworden ist, oder jener höchst wackere Artist Hatscheck,
und viele andere Gestalten des außergewöhnlich bunten und reichen Personals mehr.
Und nun, während die Gespräche, die Streitereien, das gegenseitige Helsen und im
Stichelassen weitergehen im kleinen Kreise uns rasch Bekarmter und Vertrauter, der
das große Elends-Volk der hunderttausend andern Gefangenen, inmitten dessen
er lebt, symbolisiert, erfahren wir, wie das ist und gewesen ist: die Lebendigen krank
und verkommend aus den Hölzern liegend, die gifthauchenden Sterbenden zu Häup-
ten und zu Füßen, die Toten auf den Gängen zwischen den Pritschen gestapelt, im
Schnee vor den blinden Fenstern zu starren Bergen gehäuft; die Ärzte in ihrer Hilf-
 
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