Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 5 (Februar 1930)
DOI Artikel:
Stoessl, Otto: Der sechste Sinn des Dichters: ein Versuch
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0325

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Satz, vLm musrkalischen, poetisch ElemenLarcn auf die Prosa. Man könnkc
jogar miL nur scheinbarer Paradorie sagen, bereits das Metrum sei ein gc
ivisser Zoll dcr Poesie an die Prosa, indem das llnerniegliche der dichkerischen
Leidenschaft durch den rhythmischcn Halr des Verfes eine sinnlich verständigc
Einschränkung und JZeruhigung erfahrc — Gleichgewichk in dcr Bewegung.
Hinwiederum bedarf die Dichkung wie keinc anderc Kunst der sinnlichen Er-
gänzung. So macht ein „inneres Gesicht" die gesagten Vorgänge und Gc-
stalten augcnfällig, und dcr „Geist der Neusik" beglciteL nicht nnr das lyrische
Gedicht, den rhapsodischen Vorkrag, sondern auch das Drama. Pede Szene
hat über ihrem verständigen Znhalt, über der Handlung und dem Wort cinen
Bogen von Transzendenz über dem Raum, der dadnrch wieder ins llnend-
liche eröffnet scheint. Jluch die dramatische Spannung und die Vorgestcllte,
oder auf der Bühne gezeigte Wirkung des beigezogenen Menschen, die bild-
liche Betätigung des sichtbaren Körpers, des Schauspielers und die geistige
Zusammenfassuug des zeitlich Fortschreitendeu zu einem Abgegrenzten, Seeli
schen, in sich Geschlossenen wird durch Statik bewirkt.

In der Musik, der unbegrifflichsten, und in der Dichtung, dcr begrifflichsten
Knnst erlebk mau das Gleichgewicht im übertragensten Sinn. Man kann es
nur durch Beziehungeu wie durch cinen Gleichnisschlcier beschrciben, ohne
eine sinnliche Tatsächlichkeit festzulegen. Der statische Sinn, der ja auch
physisch bereiks tief ins Jnnere, in die I^ähe des Gehirns versetzt ist, befindek
sich eben an der Grenze des Weges, den die Eindrücke von außen nach inueu
nehmen und an der Kreuzung, wo dic äußere Erregung der Sinne zu einer
innereu Beantwortung, Deutung und Schlichtung durch den Geist umge-
wandelt wird. Zwischen dem Eindruck des sinnlich Wahrgenommenen und
seiner seclischen Tluswertung, seiner Umwandlung, einer eigentlichen Umschal-
tung von Kräften, liegt in einem Augenblick einc Ewigkeit: ebeu die eröffnete
Welt der Seele. Der Gleichgewichtssinn wacht an ihrer Schwelle.
Empfangen wird ein starkcr Eindruck von außen, abcr ohne Ordnung. Von
allen Seiten, auf alle Sinne strömt Welt ein. Der Geist niinmk die Ein-
drücke sogleich auf, in der ihm eigenen Beschränkung auf seine Wahrneh-
niungsfähigkeit, jedem betroffenen Sinne zugeteilt. Er ergänzt sie durch seine
Einbildungskraft. Schon bei der oberflächlichen Schlichtung gibt es Wer-
tuugen: nach dem rein sümlichen Empfindungsleben auf der Spaittinngsseite:
Lust — Unlust, nach dem Gemütsleben auf der Seite: Liebe — Haß, nach
dem Berstande auf der Seite eines bejahenden oder verneinenden Willens.
Diese Wertungen, die sich innerhalb dcs Koordinatensystems Raum — Zeit,
Ursache — Wirkung errcgend einzeichnen, also eine allgemeine geistige Zu-
keilung bercits voraussetzen, sind Folgen und Llusdruck einer beständigen ele-
menkaren Wcsensspannung mit wechselnden Komponenten. Das mensch-
liche Leben ist eine solche stete Folgc von Ladungen und Entladungen mik
ruhender Mitte. Der Mensch wird von seinen Eindrücken „hingerisscn",
nach den Trieben, nach dcn Leidenschaften des Gemükes, nach den Urteilen des
Verstandes. Iedes Überwiegen oder ausschließliche Vorwalten eines Span-
nungselementes stört das Gleichgewicht, indem es die „Seele" uach seiner
Seike hinlenkt. Daß Rkationen, Zeitcn und Individuen durch ihnen eigen-
lümliche Spannnngselemente nnd verhältnisse (Trieb Gemük, Gemüt

263
 
Annotationen