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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1929)
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Gogarten, Friedrich: Glaube und Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0135

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über vergrßt, was ihm als das Bekannte, als das Hier und Heute vor der
Hand liegt. Weder erfaßt jener, der an di'e bloßen Tatsachen hingegeben ist
und alles über das Faktische Hinausgehende vcrachtet, damit, wie er aller-
dings meint, die Wirklichkeit. Noch ist das, was jener Lut, der über die Zu-
kunst und das Ilnbekannte Lräumt und grübelt und der darüber die Gegenwart
und das Bekannte vernachlässigt, wirklicher Glaube. Denn es gibt keine
Wirklichkeit sür den Menschen ohne Glauben, es gibt aber auch keinen Glau-
ben, der des Närnens wert ist, ohne Bindung an die Wirklichkeit. Das rein
Tatsächliche des Lebens wird dem Menschen nur dann zur Wirklichkeit,
wenn er glaubk, wenn er sich im Glauben, wenn er sich glaubend in das
Mehr-als-Hier, Mehr-als-JeHk und in das Mchr-als-Bekannte und
bloß-Tatsachenhafte hineinerstreckk. Und das Sich-Erstrecken in das llnbe-
greifliche, in die Zukunst, in das Dort wird nur dann kein müßiges Träu-
men, sondern Glaube sein, wcnn der, der es tuk, darüber nicht das Heute und
IeHt, das Bekannte verliert. So sind Glaube und Wirklichkeit aus das
engste miteinander verbunden.

Heute ist allerdings die Meinung weik verbreitek, daß Glaube und Wirk-
lichkeik zueinander im GegensaH stehen, ja, daß sic einander ausschließen.
Man meint, ein Mensch, der in der Wirklichkeit lebe, könne nicht glauben.
Oder umgekehrt: ein Mensch, der sein Leben im Glauben führen wolle,
müsse über die Wirklichkeit hinwegsehen. Oder aber man meint, ein Mensch,
der beides wolle, Glaube und Wirklichkeit, müsse zwei ganz verschiedene Leben
nebeneinander leben: das eine, das er im Glauben führe, und das andere, das
er in der Wirklichkeit lebe. Das eine, das er dann bei sich, in scinem Innern, in
seinem privaten, persönlichen Leben lebe, und das andere, das er als Ge-
schäftsmann oder Beamker oder Angestelltcr oder Arbeiter im össentlichen und
geschästlichen Leben lebe.

In der Tat: so wie man heute weithin die Wirklichkeit und den Glauben
versteht, ist es wohl auch so. Ebenso wie ich vorhin sagte, daß die merkivür-
dige Eigenark des menschlichen Lebens, so wie wir es hier aus Erden im
ständigen Übergang vom Hier zum Dort, vom Heute zum Morgen, aus der
Zeit in die Ewigkeik leben müssen, durch diese beiden Begrisfe: Glaube und
Wirklichkeit, bezeichnek sei, ebenso könnte ich sagen, daß wiederum die Eigen-
art des Lebens, das der heutige, der moderne Mensch lcbk, bezeichnet ist
durch diesen Widerspruch und unvereinbaren Gegensah von Glaube und
Wirklichkeit. Es wird heuke wenige Menschen geben, durch deren Leben
dieser Widerspruch nicht hindurchgehk; bei den einen ist er schärfer, Lei den
anderen weniger scharf. Denn es gibt nicht viele Menschen, deren Leben
ganz vom Glauben Leherrschk wäre. Irgendwo stehk jeder Mensch in dcr
Wirklichkeit und hat er Leil an ihr. Und an der Wirklichkeit keilhaben, so
wie man sie heute im allgemeinen vcrsteht, das heißt, in ihre Notwendig-
keiten nnd Bedingtheiten verstrickt sein und ihnen im GegensaH zu dem Glau-
ben, den man sclbst hat oder den andere haben, gehorchen müssen. 2lbcr
ebcnso gibt es heute nicht viele Menschen, die allein in der Wirklichkeit leben,
und die sich nicht irgendwo und irgendwie in irgendeinem Glauben gcgen
di'e Wirklichkcit zu erhcben versuchen, die sie sonst sesthält. Natürlich ge-
schieht das bei den einzelnen Menschen und Gruppen heute aus sehr ver-
 
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