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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,1.1929-1930

DOI Heft:
Heft 4 (Januar 1930)
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André, Hans: Vom Wesen und Gegenwartswert christlich-mittelalterlicher und Goethescher Naturanschauung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8887#0278

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sllid. Abstraktioil führt gcwiß zur ErkennLnis, aber sie darf nicht von dem
Wesentlichcn und Eigentümlichen absehen. Die mechaniftifche 2lb-
ftraktion ift dem Versuch zn vergleichen, alle sprachlichen Gebilde, sowohl
Prosa als auch Poesie, nur nach dcn Regcln der Grammatik zu charakterisie-
rcn und die Negeln der Metrik cntweder als nichk vorhandcn anzusehcn
oder sie wenigftcns anf die Ncgeln dcr Grammatik „reduzieren" zu wollcn.
Ern solchcr Bersuch mußke mit dcr Zeit notwcndig von dem Gegcnsland selbft
hcr eine Bcrlchtigung erfahren. Man mußte erkennen, daß die Gegen-
ft a n d s a n a ly s e cine u n z u lä n g l i ch c, unvollftändige, einc der Ergän-
zung sehr bedürftige war.

Dic Erkenntnis, daß in der Nratur nicht allcs übcr einen Leiften zu fchlagen
ift, ift die Keimzclle dcr neuen Lypologischen Bekrachtuugsweise. Typo-
logifch unkerfcheidbarc Vorgänge gibt es fchon im 2lnorganifchen. So reichcn
die mechanifchen Prinzipien des Druckes und Stoßes nichk aus, um durch sie
die clcktrifchen Phänomene zu befchrciben. Ferner gibk es in der N'atur Vor-
gänge, bei denen die Eigenfchaften durch bloße 2lddition und Subftraktion
zuftande kommen und infolgcdesscn voraussagbar sind (Ne su l t a n L e n)
und solche, bei dencn dies nichk möglich ift, bei denen also die entftehenden
Eigenfchaften Hervortritte odcr Emergenken darftellen, die nichk im voraus
errechenbar sind. Wenn der Kohlenftoff mit seinen beftimmten Eigenfchaften
sich mit dem audersgearteten Schwefel verbindet, so entfteht nicht eine bloßc
Mifchung, sondern eine neue Subftanz, deren Eigenfchaften ganz verfchiedcn
von denen ihrcr beiden Komponentcn sind. Nmr das Gewichk der Vcrbindung
ift eine durch 2lddition entftandene Nesultanke: die Summe der Gewichte dcr
beiden KompoiieiiLcn; und dies konnte vorausgesagk werdcn, bevor irgendein
Molekül des Schwefclkohlenftoffs sich gebildek hatte. 2lber verfchiedene andere
Eigenfchafteii sind wesentlich Emergenten, welche in keinem Fallc von ciner
solchen Kombiuakion voransgesagk wcrden konnten. sffakürlich, wenn wir durch
Erfahrung erft gelernt haben, was in diesem bcsonderen Falle an Eigen-
ichaftcn hervortritt, kaun man auch voraussagen, was in diescm gleichcn Falle
unter ähnlichcn Umftänden enkffeht. Dicser Emergenzcharakter tritt
bci den Lcbcnserscheinungen noch viel überrafchender hervor; so,
wenn es z. B. gclingt, die Keimc zweier verfchiedener Gefchöpfe oder auch
beliebiges Zellenmatcrial, welches zuvor durch mechanifche Isolicrung aus le-
bcnden Körpern erhalten wurdc, zur physiologifchen Vereinigung und gemeiu-
fchaftlichen Entwicklung zu bringen.

2lber die Gesehe der physikalifchen Syffeme reichen zur Befchreibung der
vitalen Gesetzlichkeiten dcnnoch nicht aus, und in diescm Sinne müssen wir
dcm Leben auch wieder eine EigengeseHlichkeit zufchreiben. Was die
Pflanze erhebk übcr den Kriffall, iff eine viel höhere Weise, aus sich
selbcr täkig zu sein und für sich selber zu wirken. Echtes
W achstum beftehtbei ihr nicht in ei'ner additiven Zwischen-
lagerung odcr Hinzulagerung neuer Stoffe, sondern in
einer Hinzuzcugung neuer lebender Subftanzteilchen, bei
dem das zeugcnde Teilchen seine eigene Struktur dem ge-
zeugten aktiv mikkeilt. Dcr Kriftall kann aus der unkriftallisierten
Mutkerlauge enLftehen — ohne Vermi'tkelung cines fchon vorhandenen Kri-
 
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